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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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denn gemacht?«
    »Studiert. Psychologie. Und daneben gearbeitet.«
    »Wo?«
    »Dort, wo ich sie kennengelernt habe. Nebenan. An der Bar. Dort saß sie. Ein Jahr. Neben dem Studium.«
    Der Barbesitzer amüsierte sich über das »Ist ja nicht zu fassen«-Gesicht seines Gegenübers. Aber der hatte sich rasch gefangen.
    »Ich werde wahnsinnig. Was muss die Frau erlebt haben! Was muss die zu erzählen haben!«
    »Sie schreibt fantastisch. Aber« – im Blick des Barbesitzers war so etwas wie Bedauern, mit nichts anderem dienen zu können – »sie schreibt Dichtung. Verstehst du. Du darfst dir nichts Falsches vorstellen.«
    »Ich stelle mir gar nichts vor. Ich will was lesen.«
    Die neuen Freunde umarmten einander im Morgengrauen. Selbst das »Bel ami« nebenan hatte kein Außenlicht mehr.
    »Weißt du übrigens, was ›mala ulica‹ bedeutet?«
    »Kleine Gasse.«
    »Ja schon, aber was das bedeutet?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Das haben die tschechischen Fußballer erfunden. Der kurze Pass quer und dann sofort in die Tiefe.«
    »Doppelpass.«
    »Doppelpass.«
    »Ich wäre nämlich auch ein guter Fußballer geworden. Aber neben dem Klavier ging das nicht.«
    Der Jungverleger versuchte sich zu erinnern, wie sein Hotel hieß und wo es lag. Der Barbesitzer machte ihm ein paar Vorschläge. Dann sagte er unvermittelt:
    »Wenn in ihren Texten von Krankheit die Rede ist, dann wundere dich nicht. Sie war sehr krank. Sehr. Aber es ist alles vorbei. Alles überstanden. Sie ist eine große Dichterin. Du wirst ihr helfen. Ich bin sehr glücklich.«
    Als dem Jungverleger der Name des Hotels endlich eingefallen war, sagte der Barbesitzer noch:
    »Du wirst es schon gemerkt haben. Ich liebe diese Frau, ich kann dir nicht sagen, wie.«
    Dass es
Liebe auf den ersten Blick
gibt, ist bekannt, wenngleich immer wieder einmal bestritten. Weniger bekannt ist, dass es
Freundschaft auf den ersten Blick
gibt. Jedenfalls unter Männern. Da lernen sich zwei kennen, wundern sich, dass sie sich nicht schon immer gekannt haben und fühlen sich ab jetzt so zueinander gehörig, als ob sie sich schon immer gekannt hätten. Um diesen Fall handelte es sich hier.
    Zwei Wochen nach jener Nacht sah sich der Jungverleger in seinem Büro die positiven Verkaufszahlen der letzten Woche an. Da erreichte ihn ein Anruf auf seiner direkten, nur Freunden bekannten Nummer. Er hatte sie dem Barbesitzer im großen Kennenlerngespräch gegeben. Der Jungverleger schaltete sofort.
    »Wo sind die Texte deiner Frau?«
    »Darüber wollte ich mit dir reden. Sie hat neuerdings eine Scheu, sie aus der Hand zu geben, sie von Leuten lesen zu lassen, die sie nicht kennt. Ich hab ihr von dir erzählt, sie glaubt mir alles, was ich ihr von dir gesagt habe, aber sie bittet dich – und ich bitte dich auch –, dir etwas vorlesen zu lassen. Wenn du das nächste Mal kommst. Das ist hoffentlich bald.« Der Jungverleger sah auf seinen Kalender.
    »Ich halte am 27. im Literaturhaus ein Referat über vertriebsmöglichkeiten für neuere ›Literatur‹. Wir könnten uns am Nachmittag –«
    Sie fixierten einen Treffpunkt in der Bar. Eine dichtende ehemalige Animierdame aus erster Gesellschaft mit psychologischen Vorstudien kennenzulernen war für den Jungverleger von hohem Reiz.
    Als er kurz nach vier Uhr Nachmittag in die Bar kam, saßen der Freund und dessen schreibende Frau schon an einem der schwach beleuchteten Tische. Tageslicht hatte ja keine Chance, je in diesen Raum einzudringen. Während der Begrüßung und der Danksagungen für Bereitschaft und Interesse bewertete der Jungverleger die potenzielle Autorin optisch. Er fand sie sehr gut aussehend, vom Nachtgeschäft nicht gezeichnet, aber da konnte natürlich das schwache Licht das Seine dazutun. Sie war groß, vielleicht etwas zu schwer, im Gesicht ganz leicht aufgedunsen, wie von regelmäßigem Medikamentenkonsum. Auffallend war ihre Allüre. Sie benahm sich ein wenig wie eine Bestsellerautorin, die einem Jungverleger eine Chance geben möchte. So empfand der das jedenfalls.
    Sie würde gerne das Neueste vorlesen, das, woran sie gerade arbeite, eine Erzählung. Eine von vielen.
    Sie las vor. Sehr gut. Ihren Stil phonetisch auskostend. Die Geschichte handelte von einer Frau, die aus dem Fenster sieht und auf der anderen Straßenseite Merkwürdigkeiten beobachtet. Der Text folgte diesen Merkwürdigkeiten, sprang hin und her, wucherte mit Assoziationen und Bildern. Aber immer, wenn der Jungverleger annehmen wollte, jetzt ginge es mit einem
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