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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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können, wenn er nicht in einem Hurenlokal gekellnert hätte.
    »Gleich hier daneben. Das hat einem jüdischen Baron gehört. Der hat sich mittlerweile zurückgezogen. Die Branche hat keinen Stil mehr, hat er mir gesagt. Aber das war ein nobler Mann. Der hat mir das Geld für die Operation geborgt, zinsenfrei. Als Gegenleistung hat er nur verlangt, dass ich nach seinem Tod in der Aufbahrungshalle ›Clair de lune‹ spielen muss. Ich hab ihm gesagt, das wird nicht sehr gut sein, wenn ich nicht mehr übe. Da hat er mir angeboten zu üben so viel ich will, im Lokal daneben. Also hier. Der Laden hat ihm auch gehört. Da habe ich dann nach der Operation jeden Tag tagsüber geübt, aber ich bin draufgekommen, zwei verlorene Jahre waren nicht mehr aufzuholen, und hundertprozentig konnte der Professor das verpfuschte Gelenk auch nicht mehr hinkriegen. Ich habe also gewusst, mit der Karriere in der Klassik ist es vorbei. Da habe ich dann die Notenstöße des damals engagierten Barpianisten hergenommen und noch einmal Klavier spielen gelernt. Von vorn. Ein neues Repertoire. Einen neuen Stil.«
    »Aber den klassischen Pianisten hört man noch durch«, fühlte sich der Jungverleger zu sagen verpflichtet.
    »Na ja. Am frühen Abend. Da spiele ich auch manchmal Rachmaninoff, Debussy oder solche Sachen. Aber da darf niemand im Lokal sein, vor dem ich mich geniere.«
    Die Geschichte des Barbesitzers endete damit, dass der Puff-Baron seine Läden loswerden wollte. Erst verpachtete er ihm das Lokal, kam auch des Öfteren als Gast, um sich am Spiel »seines« Pianisten zu erfreuen, dann verkaufte er es ihm.
    »Ich habe das riskiert, denn damals war der Laden jeden Abend bumsvoll. Heute möchte ich nicht mehr meine Bank sein.«
    »Haben Sie ›Clair de lune‹ schon spielen müssen?«
    »Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass ich noch erfahre, wann ich es spielen soll.«
    Es war vier Uhr morgens geworden. Zwei Paare schmusten. Ein Geiger spielte, nur für sich, Mendelsohn.
    Der Jungverleger und der Barbesitzer waren nicht mehr sehr nüchtern. Sie waren auch schon ins Du hineingerutscht. Nicht nur aus Unaufmerksamkeit, sicher auch, weil sie sich mochten. Dabei lagen sie typmäßig extrem auseinander: der junge Mann mit einer für sein Alter schon erstaunlich großen Glatze, nervös wie ein Hund auf der Fährte, eher in Richtung Junggenie gekleidet, und der soignierte Herr mit vollem schwarzem Haar, Nadelstreif und Krawatte und tief melancholischen Augen.
    Der Jungverleger erinnerte sich an Details der in dieser Nacht gehörten Geschichte.
    »Du musst das alles aufschreiben. Ich habe schon seit einiger Zeit eine Idee für eine Anthologie ›Klaviergeschichten‹ , also nur Erzählungen, in denen das Instrument eine entscheidende Rolle spielt, vielleicht nehme ich auch noch Geige und Trompete dazu. Aber deine Geschichte muss da hinein.«
    »Ich kann nicht schreiben. Mein Deutsch ist viel zu fehlerhaft.«
    »So ein Blödsinn! Erstens ist dein Deutsch tadellos. Zweitens, wenn dir einmal ein Lapsus passiert, dafür gibt es Lektoren.«
    »Ich habe noch einen Grund, warum ich nicht schreibe.«
    Das klang sehr bestimmt. Der Jungverleger bemühte sich um Nüchternheit. So konnte er der Argumentation des Barbesitzers folgen.
    »Meine Frau schreibt. Die würde nicht wollen, dass ich auch –«
    »Warum nicht?«
    »Das muss man verstehen. Ich fände es auch nicht gut, wenn sie plötzlich Klavier spielen wollte. Und das wäre doch peinlich, mein erster Text würde gedruckt erscheinen, ihre Sachen liegen herum.
    Kommen zurück. Immer abgelehnt.«
    »Hat sie noch nichts veröffentlicht?«
    »Nein.«
    »Sie soll mir was schicken. Unverbindlich. Aber du darfst dann nicht böse sein, wenn ich –«
    »Ist doch kein Thema. Ich danke dir in jedem Fall. Sehr.«
    Der Barbesitzer ging schon schwer, als er eine neue Flasche holte.
    Der Jungverleger wollte mehr wissen.
    »Was macht denn deine Frau sonst?«
    »Nichts. Das heißt: nichts mehr.«
    Auf den weiter fragenden Blick des Jungverlegers erklärte er, sie sei eine
höhere Tochter
, einziges Kind einer prominenten Anwaltsdynastie.
    »Dann kann doch der Schwiegervater dir hier helfen, wenn du finanziell nicht so besonders –«
    Der Barbesitzer wehrte lachend ab. Das Lachen war hässlich.
    »Der würde nie etwas auslassen. Er verzeiht uns nicht, dass wir keinerlei Enkel produzieren, wofür sie nichts kann. Sie hat keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern.«
    »Du hast gesagt, sie macht nichts mehr. Was hat sie
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