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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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Stunden Eisenbahn, ich kann während des Zugfahrens lernen.«
    Die Bühnenbildnerin erzählte ihrem Meister, sie würde laut Angebot mit der
Carmen
als Eröffnungspremiere der neuen Ära beginnen und im ersten Jahr noch einen Mozart und eine Uraufführung ausstatten. Der sagte: »Ich muss Ihnen nicht sagen, wie ungern ich mich trenne, aber worüber denken Sie noch nach? Das ist von der Größe her das ideale Haus vor der ganz tollen Karriere, und die machen Sie, glauben Sie mir.«
    Jetzt war also die Bühnenbildnerin in der Stadt mit dem Staatstheater. Ihr Glück hatte sie nicht verlassen.
    Im Theater herrschte die Aufbruchsstimmung eines jungen Teams, die Technik und der Malersaal akzeptierten sie schon nach den ersten sachlichen Kontakten, ja, man wunderte sich – wie bei einer so schönen Frau üblich – über die bestechende Professionalität des neu engagierten Mitglieds.
    So wie sie im Theater erstklassige Arbeitsbedingungen vorgefunden hatte, fühlte sie sich in einer Mietwohnung in der Altstadt wohl, die ihr Geld wert war, weil die Fenster der Rückseite den Blick auf einen kleinen Fluss und die dahinterliegende, verwachsene alte Stadtmauer freigaben. Dieser Platz an den Fenstern war ein geradezu traumhafter für die Arbeit mit dem Skizzenblock.
    Die Vorstellung der schönen Bühnenbildnerin von
Carmen
deckte sich mit der des Regisseur-Intendanten. Sie wollte nicht das tradierte Opern-Sevilla bauen, sondern die Vorstadt, die Provinz. Ihre Zigarettenarbeiterinnen sollten nicht frisch geschminkt aus der Maske, sondern notdürftig gewaschen aus der Fabrik kommen. Ihre Schenke war weniger Vergnügungsetablissement als Ganoventreff, die Schlucht nicht wildromantisch, sondern kalt und grausam, der Platz vor der Stierkampfarena wurde zu einer Menschenarena, zu der des Entscheidungskampfes zwischen Carmen und José.
    Die Premiere war umjubelt. Die jungen Sänger machten das Fehlen stimmlicher Sonderklasse durch körperliche Authentizität wett, der Regisseur hatte Mut zur Aktion, der Dirigent begriff die Musik schlank und nicht fettig, und alles wurde zusammengehalten durch den Formwillen der schönsten Frau, die sich je in diesem Theater verbeugt hatte.
    Der Kritiker der einzigen bedeutenden, überregionalen Zeitung dieser Stadt hatte eine weitgehend gute Meinung über diese Premiere, mit einer krassen Ausnahme:
    »Schade, dass die neu und wohl fahrlässig längerfristig an das Haus gebundene Ausstatterin die Opernbühne mit einer Boutique verwechselt. Da fehlt es an der großen Linie, da fehlt es an der ästhetischen Konzeption, das ist nichts als modische Koketterie, die sich als Stil ausgibt, die Farben gefallen sich in Disharmonie bis zur schlichten Geschmacklosigkeit.«
    Die Bühnenbildnerin saß in einem leichten weißen Bademantel vor dem sonnenüberfluteten Frühstückstisch, hörte die Vögel von der Stadtmauer zwitschern und heulte. Die Tränen flossen in die Honigschale und auf das Croissant. Sie zerknüllte die Zeitung, rief bei ihrem Freund an, den sie aber nicht erreichte, rief ihren Meister, den berühmten Bühnenbildner, an, erreichte dort nur dessen neue Assistenz, worauf sie nichts als kurze Grüße bestellte, legte wieder auf, schüttete sich eine Tasse schwarzen Kaffee hinein und heulte noch einmal.
    Es war die erste Niederlage ihres Lebens, wenn wir von einer misslungenen Lateinarbeit in der elften Klasse absehen.
    Diese Kritik war ihr in jeder Hinsicht so unbegreiflich, ließ ihr keine Chance zum Argumentieren, war im Vernichtungswillen zu überdimensioniert, nahm ihr jegliche Luft. Sie hatte schon Kritiken über die Arbeiten ihres Meisters gelesen, die nicht immer nur jubelnd waren, die einschränkten, ja eine gewisse Missgunst erkennen ließen, was sie das eine oder andere Mal auch richtiggehend empört hatte. Aber nie war es eine Kritik gewesen, die dem Bühnenbildner den Rang, die Berechtigung, diesen Beruf überhaupt auszuüben, absprachen. Sich in Fragen der Ästhetik, des Geschmacks, also auf dem Gebiet ihrer angeborenen Domäne, disqualifiziert zu lesen hatte für die schöne Bühnenbildnerin den Stellenwert eines Messerattentats.
    Die kuriosesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Mit dem Taxi zum nächsten Zug wollte sie fahren und auf Nimmerwiedersehen abhauen. In die Redaktion wollte sie gehen und dem Mann in die Eier treten. Widerlich kitschige Entwürfe wollte sie zeichnen, dem Kritiker schicken und dazuschreiben: Wäre Ihnen das lieber?
    Langsam nur kehrte die Lebensfreude
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