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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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Schreiben und Lesen nicht möglich ist, geht er dazu über, Passagen seiner Lieblingsschriftsteller aus dem Kopf zu rezitieren. So rezitiert er aus dem Gedächtnis stundenlang aus Platons Dialogen oder aus den Abhandlungen von Aristoteles über die Seele, worin der Geist als unsterbliche, reine Energie beschrieben wird. Ergriffen von diesen großartigen Gedanken, weint er zuweilen wie ein kleines Kind und betet zu Gott oder dem großen Geist, was für ihn ein und dasselbe ist, um Beistand in seiner jämmerlichen Lage.
    Seine Kerkergenossin indes scheint noch ungleich gefangener im eigenen Elend zu sein als er selbst. Seitdem er hier unten ist, hat sie bislang mit keinem Wimperzucken auf seine Anwesenheit reagiert oder überhaupt so etwas wie eine menschliche Regung gezeigt. Und es dauert auch noch eine ganze Weile, bis er das erste Mal zu ihr durchdringt:
    Seit einiger Zeit hat er es sich zu eigen gemacht, der armen Kreatur mitunter eine seiner vielen Geschichten zu erzählen, was ihm auch selber etwas Ablenkung bringt. Die Geschichte vom Buntding aus Hameln, die er gerade vorträgt, scheint bei ihr irgendeine Erinnerung hervorzurufen, jedenfalls kichert die Unglückliche kurz und kehlig, bevor sie wieder in die übliche Apathie verfällt, die nur von ihrem gequälten Stöhnen unterbrochen wird. In ihrer Dumpfheit murmelt sie auf einmal einen Namen, es hört sich an, wie „Albert“. So heißt er selber, sie kennt aber seinen Namen gar nicht, hat sich auch nie dafür interessiert. Er rückt näher an sie heran und wiederholt den Namen, immer wieder, in einem freundlichen Singsang, in den die Törin bald einstimmt. Dann richtet sie sich plötzlich auf und zerrt ihn unter die Luke, versucht im Halbdunkel sein Gesicht zu erspähen. Wieder murmelt sie seinen Namen und blickt ihn dabei aus Augen an, wie er sie zuvor noch bei keinem Menschen gesehen hat. Die Augen füllen sich mit Tränen, und sie weint, wie er noch niemanden hat weinen sehen. Auch er beginnt zu schluchzen und schließt das knochige, alte Mädchen ergriffen in die Arme.
    Es hat lange gedauert, bis Mäu es wirklich fassen konnte, dass der Mann, mit dem sie seit einiger Zeit den Kerker teilt und der oft stundenlang mit lauter Stimme in fremden Sprachen spricht, tatsächlich der Flugblatthändler Albert von Uffstein ist, den sie in jenen fernen Tagen ihrer Jugend auf dem Galgenfest kennen gelernt hat. Noch länger dauert es, bis sie das erste Mal in der Lage ist, ihre Stimme zu gebrauchen und zusammenhängend mit ihm zu sprechen. Die ersten Worte, die ihr über die Lippen kommen, scheinen wie aus der Tiefe einer Gruft nach draußen zu dringen. So lange schon hat sie mit niemanden mehr ein Wort gewechselt, die einzigen Laute, die sich zuweilen noch ihrer Kehle entrungen hatten, waren Schreie gewesen.
    Am Anfang noch stammelnd und fahrig, klärt sich ihr Geist zunehmend auf, und es gelingt ihr immer besser, sich mit Albert auszutauschen. Der Flugblatthändler ist zutiefst erschüttert darüber, was die lange Haft aus der hübschen Abdeckertochter mit den leuchtend grünen Augen, die ihm damals so gefallen hatten, gemacht hat. Die gebrochene Person, die höchstens Mitte zwanzig ist, kaum noch Zähne im eingefallenen Mund hat und wie ein Gerippe aussieht, wirkt auf ihn wie eine alte Frau. Geduldig lauscht er ihrem teilweise schwer verständlichen Bericht über ihr tragisches Leben und bedauert sie dabei unsagbar. Sie erzählt dem gelehrten Flugblatthändler, der ihr mit großer Güte und Einfühlsamkeit begegnet, von ihren Sehnsüchten und Träumen, Hoffnungen und Ängsten, die sie hier unten im Brückenloch durchlebte, bevor sie sich schließlich nur noch einer todesähnlichen Apathie anheim gegeben hat, die sie gegen die Unsäglichkeiten ihrer Haft unempfindlicher werden ließ, was sie auch im Nachhinein als große Gnade empfindet. Dennoch ist sie froh, aus ihrer Todesstarre erwacht zu sein und einen Menschen um sich zu wissen, der ihr seltsam vertraut wie ein geliebter Bruder erscheint. Alberts Gegenwart tut ihr unendlich gut und lässt die körperlich und geistig bereits dem Tod Geweihte wundersam erstarken.
    Eines Tages bittet Mäu Albert sogar, ihr das Schreiben beizubringen, wozu er sich gerne bereit erklärt. Mit einem alten, verrosteten Kettenglied ritzen sie, unter der Luke sitzend und jeden Lichtstrahl nutzend, die Buchstaben in den Lehmboden. Mäu lernt schnell und ihre Augen erstrahlen zuweilen fast wieder in der alten Intensität. Für Albert ist
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