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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Sie erinnert sich noch gut an seine letzten Worte:
    Schon als Bub hätte es für einen wie ihn nur Betteln oder Stehlen gegeben. Er habe sich fürs Stehlen entschieden und sei stolz darauf. Und sie solle sich von denen bloß nicht unterkriegen lassen. Er sei sich sicher, sie käme hier wieder raus.
    Sie hatte ihr Bestes gegeben und lange Zeit immer wieder versucht, allen Widrigkeiten hier unten zu trotzen – dem Dreck, den Ratten, dem Hunger, der Kälte, den Irrsinnigen und ihren Schreien, der Angst und der Hoffnungslosigkeit. Doch inzwischen ist ihr alles egal geworden, und oft träumt sie, sie sei in der Hölle – oder im Fegefeuer. Und manchmal weiß sie nicht mehr, ob es Traum oder Wirklichkeit ist. Aber auch das ist ihr gleich.

 
22. Lichtgestalt
     
     
     
    „So war ich all die Jahre ein unbehauster Gesell, getrieben wie ein Blatt im Wind. Erst als ich entdeckte, dass es Blätter gibt, die man beschriften kann, fand ich meine Heimat. “ (Albert von Uffstein, Flugblatthändler)
     
     
    Im Jahre 1515 ist im Kielwasser der Frankfurter Herbstmesse eine Reihe von Schmähschriften in Umlauf geraten, die das Frankfurter Stadtpatriziat und auch den Klerus aufs Heftigste anprangern. In den Flugblättern ist die Rede von führenden Frankfurter Senatsfamilien, die in der Stadt das Sagen hätten und immer reicher würden, indem sie den „Nichtshäbigen“ das Geld aus der Tasche zögen. Auch die parasitäre Existenz des Klerus wird mit scharfen Worten gegeißelt. Die inzwischen über das gesamte Stadtgebiet verstreuten Pamphlete greifen auf, was schon lange in den Köpfen der Leute gärt: Immer weitere Kreise der Frankfurter Bürgerschaft sind verarmt und werden zudem noch mit den Steuern belastet, die der Rat auf die wichtigsten Grundnahrungsmittel gelegt hat. Mit einer Welle von Erhebungen in anderen deutschen Städten kommt es schließlich auch in Frankfurt zu Aufständen der städtischen Unterschichten.
    Beim Treffen ihres humanistischen Zirkels im Stadtschloss der Familie Holzhausen debattieren die der Kunst und Wissenschaft sehr zugeneigten jungen Patriziersöhne angeregt über die vorliegende Streitschrift, bevor sie sich wie üblich der Lektüre Ciceros, dem Meister der hohen Rede, zuwenden.
    Die Herren Fürstenberger, Holzhausen, Stalburg und Glauburg sind sich einig: Der Verfasser des Pamphlets verfügt über einen brillanten Stil, wozu nur ein außerordentlich gebildeter Mensch in der Lage sein dürfte. Claus Stalburg, selber ein leidenschaftlicher Bücherfreund, vermutet die Brutstätte der Schmähschrift daher auch im Buchhändlerviertel der Frankfurter Messe.
    Die Buchmessen, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden, sind inzwischen längst zu einem bedeutenden Teil der Frankfurter Handelsmessen geworden. Im Buchhändlerviertel, welches sich über die Alte Mainzergasse und die Buchgasse erstreckt, werden nicht nur Unmengen von Büchern verkauft, sondern auch interessante Nachrichten, Ideen und neue geistige Strömungen diskutiert und weitergegeben. Buchhändler und Gelehrte aus allen Teilen Europas geben sich hier ein Stelldichein und tragen dazu bei, dass Frankfurt immer mehr zu einem Schwerpunkt des europäischen Buchhandels wird.
    In den steinernen Verkaufsgewölben im Erdgeschoss der Häuser lagern, sorgfältig verwahrt und gehütet, die Kleinodien der Buchkunst in Form kostbarer, alter Handschriften und Folianten, reserviert nur für wenige, gut betuchte Liebhaber. Auf den Büchertischen aber stapeln sich, dank der Erfindung des Buchdrucks nun auch für das breite Publikum erschwinglich und einsehbar, die Neudrucke der alten Klassiker, die sich einer regen Nachfrage erfreuen. Denn auch die in bescheideneren Verhältnissen lebenden Schriftgelehrten können es sich nun endlich leisten, die relativ günstigen Druckerzeugnisse von Werken antiker Schriftsteller für die eigene kleine Hausbibliothek zu erstehen. Und auch die Bücher zeitgenössischer Autoren sind druckfrisch erhältlich und seitens der breit gefächerten Kundschaft sehr gefragt.
    Albert von Uffstein ist noch immer wie im Rausch. Wenn er an den Büchertischen steht, merkt er einfach nicht, wie die Zeit vergeht. Und die Römeruhr hat gerade laut und vernehmlich die sechste Stunde geschlagen. Jetzt wird er sich ganz schön sputen müssen, um noch pünktlich zur Lesung zu kommen! Es ist zwar nicht allzu weit bis zur Alten Mainzergasse, aber durch das Messegetümmel kommt man
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