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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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Erleichterung zuließ, rannte er los. Auf die Bäume am Rande des
Hofes zu, hinein in die Nacht, die nun schon von dem versteckten Tal Besitz
ergriffen hatte.
     
    *
     
    Wie er es angekündigt hatte, verließ Nils Norby nur einen Tag
später den Petersthal-Hof. Bereits im ersten schwachen Morgengrauen, noch bevor
Bernina aufgewacht war. Allein blieb sie zurück, unterstützt nur von Baldus,
der sich einmal mehr als treue Seele erwies. Von dem Abend der Rückkehr hatte
er eine Platzwunde und ein ordentliches Schädelbrummen davongetragen, doch das
bremste nicht seinen Eifer. So klein er auch war, so groß war die Hilfe, die er
zu leisten vermochte. Er schlief nicht mehr wie früher in dem kleinen Bau für
Knechte und Mägde, sondern in einer Kammer im Erdgeschoss des Haupthauses. Und
Bernina wusste nur zu gut, dass er in vielen Nächten lange ausharrte, um Wache
zu halten und verdächtigen Geräuschen nachzugehen. Doch alles blieb ruhig.
Sorgen allerdings gab es auch so. Der Winter würde hart werden. Keine Vorräte
hatten angelegt werden können. Die Tiere waren nicht mehr da, wahrscheinlich
hatte man sie nach und nach gestohlen.
    Auch nach Teichdorf
kehrten etliche Leute zurück, die vor den Männern mit der goldenen Rose und dem
Krieg geflohen waren oder sich in der Nähe versteckt gehalten hatten. Sie
wurden bestärkt durch eine Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer in ganz Baden
verbreitete. Der kaiserliche General Benedikt von Korth hatte den gefürchteten
General d’Orville besiegt und dessen Armee zerschlagen. D’Orville selbst hatte
auf dem Schlachtfeld den Tod gefunden. Ruhe breitete sich aus. Und trotz der
Winterkälte spürte man, wie die gesamte Gegend aufatmete.
    Teichdorf versuchte, von
Neuem das Leben früherer Tage zurückzugewinnen. Abermals stemmten sich die
Menschen dagegen, einfach aufzugeben, erneut waren sie bereit, von vorn
anzufangen. Was in jener Nacht, als französische Truppen die Spanier
vertrieben, zerstört wurde, baute man Stück für Stück wieder auf. Sogar das
Gasthaus ragte bald schon in seiner alten Wuchtigkeit in der Ortsmitte auf.
    Der Rhythmus der
Beständigkeit, in den sich der Petersthal-Hof gerade zurückzufinden versuchte,
geriet eines Morgens durcheinander. Baldus stürmte in die Küche, wo Bernina ihm
bereits mit ernstem Gesicht entgegensah. Sie hatte den Flügelschlag zahlreicher
Krähen gehört, wie an jenem schrecklichen Tag auf dem Weizenfeld bei Teichdorf,
und dann das Gemurmel, das gleich darauf einsetzte. Baldus sagte kein Wort. Er
wies nur nach draußen. Sie ging voran, gefolgt von dem Knecht, hinaus auf den
Platz vor dem Hauptgebäude. Mit bangem Blick blieb sie stehen, Baldus wiederum
hinter ihr.
    Auf den Bäumen, zwischen
die sich Domingo Alvarado geflüchtet hatte und seitdem nicht mehr gesehen
worden war, hockten die Krähen, still und reglos wie Puppen, allein in ihren
schwarzen Augen schien Leben zu sein.
    Nicht wenige
Teichdorfer, Männer und Frauen, hatten den Weg bis zum Hof zurückgelegt.
Aufgereiht, wie die Vögel auf Ästen saßen, standen sie vor Bernina und Baldus.
Und ebenso stumm. Das anfängliche Gemurmel hatte sich aufgelöst. Die meisten
hielten die Hände hinter dem Rücken verborgen.
    Waffen?, fragte sich
Bernina.
    Ein Paar und ein Kind
traten vor, ein Mädchen, sieben oder acht Jahre alt. Noch immer lag tiefes
Schweigen über allem.
    Erst jetzt erkannte
Bernina das sommersprossige Mädchen mit dem kupferfarbenen Haar. Es war jenes
Kind, das sie auf dem Weizenfeld, bedroht von der Waffe eines spanischen
Söldners, mit ihren bloßen Händen aus der Erde gewühlt hatte. Bernina musste
schlucken.
    Die Mutter der Kleinen
begann zu sprechen und schien die Worte sehr genau zu wählen: »Wir wissen
natürlich längst, dass Sie wieder hier sind. Die Krähen haben es uns gezeigt.
Seit Sie fort waren, haben sich auch die Vögel nicht mehr sehen lassen. Jetzt
sind die Krähen zurückgekehrt.«
    Bernina fuhr sich mit
der Zungenspitze über die Lippen. Nach wie vor schwieg sie, nach wie vor
betrachtete sie die Menschen, die ihrerseits sie nicht aus den Augen ließen.
    »Jedenfalls ist es das«,
setzte die Frau hinzu, »was einige behaupten.«
    »Wer kann schon wissen«,
hörte Bernina auf einmal doch ihre eigene Stimme, »was manchmal zwischen Himmel
und Erde geschieht?« Das hatte die Krähenfrau oft gesagt, sie erinnerte sich so
gut daran. »Ich kann Ihnen allen lediglich versichern, dass Sie weder vor mir
noch vor den Krähen etwas zu befürchten
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