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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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haben.«
    Wieder ließ sie ihren
Blick über die Menschen wandern, und noch immer fühlte sie Beklemmung in sich.
    »Sie
müssen uns nichts versichern«, rief die Frau. »Aber wir müssen uns bei Ihnen
entschuldigen. Viele sind gestorben, ohne dass wir es verhindert haben. Auch
Sie hätten fast dazu gehört. Und wir hätten Ihr Ende durch dummes, von blinder
Furcht getriebenes Gerede beinahe noch beschleunigt. Krähentochter. So nannten
wir Sie. Dabei haben Sie unsere Kinder vor Schlimmerem, sogar vor dem Tod
bewahrt. Sie sind eingeschritten, als wir uns nicht trauten. Wir haben etwas
gutzumachen. Dieser Winter wird eine schwere Zeit. Wir haben alle nicht viel
retten können. Vor allem nach diesem traurigen Sommer und diesem ebenso
traurigen Herbst. Aber das Wenige, was uns gehört, möchten wir mit Ihnen
teilen.«
    Nun
zeigten die Menschen, was sie hinter ihren Rücken versteckt hatten: Säcke mit
Mehl und Salz und Hafer, Schwarzbrot, gepökeltes Schweinefleisch, Hartwurst,
getrocknete Früchte.
    »Das
kann ich nicht annehmen«, protestierte Bernina völlig verblüfft und wechselte
einen ratlosen Blick mit Baldus.
    »Und
ob Sie das können!«, ließen die Teichdorfer keinerlei Widerspruch zu.
    Mit
Tränen in den Augen verfolgte Bernina, wie die Leute ihre Gaben vor dem
Hauseingang abluden und sich danach der Reihe nach von ihr verabschiedeten, zum
Schluss das rothaarige Mädchen mit einem reizenden Knicks. Bernina war immer
noch gerührt, als sie zusah, wie die Teichdorfer in aller Ruhe wieder den Hof
verließen.
    Die
Kälte nahm zu, Schneefälle deckten den Petersthal-Hof zu, die Flüsse und Bäche
froren zu. Bernina fühlte eine sanfte Melancholie in sich, wenn sie nachts wach
lag und dem gelegentlichen Heulen der Wölfe lauschte, von denen immer noch
welche die Wälder durchstreiften. Erinnerungen umschlichen Bernina,
Erinnerungen an Anselmo und die Krähenfrau. Sie sah auch Meister Anton
Schwarzmauls Werkstatt vor sich, hörte sein Hi, hi, hi wie das Meckern einer
Ziege und spürte Pierres stumme Blicke auf sich. Sie erinnerte sich daran, wie
das Licht auf dem endlos weiten Meer getanzt hatte, vernahm in ihrem
Schlafzimmer die Wellen, die an den Rumpf der Isabella schlugen. Und häufig
nahm Nils Norby vor ihrem inneren Auge Gestalt an, so, wie er damals an der
Reling stand und mit diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck aufs Wasser
blickte. Allein Norby war es gelungen, Bernina immer wieder in Verwirrung zu
stürzen, sie befangen oder verlegen zu machen. Jetzt war er nicht mehr bei ihr.
Und doch blieb ihr etwas von ihm. Es wuchs in Berninas Leibesmitte, nur dass es
zusehends schwieriger wurde, ihr Geheimnis selbst unter den weiten wallenden
Winterumhängen zu verbergen. Bald würde es ohnehin kein Geheimnis mehr sein.
Jedes Mal, wenn sie ihren wachsenden Bauch befühlte, dachte sie an den Teich im
fernen Spanien, und für sie gab es keinen Zweifel. Niemand ist ohne Schwäche,
ohne Fehler, dachte Bernina. Sie empfand keine Scham, vielmehr spürte sie, dass
man machtlos war gegen das Schicksal. Sie fühlte sich gesund und stark. Und
auch das Gerede, das in Teichdorf bald über sie und den mutmaßlichen Vater
ihres Kindes einsetzen würde – schließlich war sie mit Nils Norby von Kloster
Murnau hierher zurückgekommen – konnte sie nicht in ihrer Standfestigkeit
erschüttern. Sie hatte so vieles durchgestanden. Sie war noch stärker geworden.
    Als die Kältewelle
abebbte, kehrte Pfarrer Egidius Blum zurück nach Teichdorf. Und er hatte Wort
gehalten und sich eingesetzt. Die Enteignungen im Dorf und in den umliegenden
Gegenden wurden rückgängig gemacht. So war auch Bernina ganz offiziell wieder die
Besitzerin des Petersthal-Hofes. Auf Pfarrer Blum wartete ein großes Stück
Arbeit. Es waren viele gute Worte seinerseits notwendig, damit nicht nur die
Kirche, sondern auch die Leute im Ort ihm eine zweite Chance schenkten.
Argwöhnische Blicke legten sich auf ihn, doch er ließ sich nicht beirren. Er
war ein anderer Mensch geworden, und das wollte er Tag für Tag beweisen. Er
hatte sich in einen nachsichtigeren, geduldigeren Pfarrer verwandelt – in einen
Mann, den die Fallstricke der Zeit weiser gemacht hatten. Jede Familie, jeden
Hof besuchte er, um Gespräche zu führen und seine Unterstützung anzubieten. Ob
die Leute wirklich bereit waren, ihm zu verzeihen, das allerdings würde erst
die Zukunft zeigen.
    Nur den Weg zum
Petersthal-Hof legte Egidius Blum nie zurück. Und auch auf der Hauptstraße des
Dorfes
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