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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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nichts
darauf. Innerlich jedoch musste sie ihm recht geben. Ein Geräusch ließ sie
zusammenzucken, ein lang gezogener Laut, der unter ihre Haut kroch und ihre
Wirbelsäule entlang rieselte.
    Einen Augenblick hielten
sie beide inne. Anselmo legte beruhigend seine Hand auf ihre, nur ganz kurz,
dann hasteten sie weiter.
    »Das war ein Wolf«,
zischte er, ohne die Lippen zu bewegen, begleitet von angestrengtem Atmen.
    Wie zur Bestätigung
erneut ein hohes, scheinbar nicht mehr enden wollendes Geheul. Irgendwo in
ihrer Nähe, irgendwo in dem stockdunkel um sie wuchernden Wald.
    »Es werden immer mehr«,
flüsterte Bernina, einfach nur, um die eigene Stimme zu hören.
    »Ja«, antwortete Anselmo
rasch. »Die Wölfe trauen sich sogar bis nach Ippenheim. Ich habe gehört, dass
sie jetzt schon Menschen angefallen haben.«
    »Sie werden nicht nur
zahlreicher. Sie werden auch immer gefährlicher, immer furchtloser.«
    »Angeblich kommt
demnächst ein Wolfsjäger nach Teichdorf, ein Mann, der sich auskennt mit den
Biestern.«
    »Hoffen wir es.«
    Noch einmal
beschleunigten sie ihren Schritt. Bernina lauschte angestrengt in den Wald. Ihr
Körper spannte sich an. Etwas in ihr wartete fast schon darauf, jeden Moment
von einem Wolf angesprungen zu werden. Doch trotz der Gefahr flirrten ihre
Gedanken zurück zu ihrer Mutter. Zurück zur Krähenfrau. So wurde Adelheid von
Falkenberg schon seit unzähligen Jahren in der ganzen Gegend genannt. Eine
Frau, die man bei hartnäckigen Krankheiten gern wegen ihrer erfolgreichen
Heilmethoden und Kräuterhilfen aufsuchte. Und die hinter vorgehaltener Hand
allerdings auch als Wesen der Nacht, als Satansmagd, als Hexe bezeichnet wurde.
    Seit Pfarrer Egidius
Blum in Teichdorf erschienen war, nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand.
    Bernina und Anselmo
atmeten auf, als sie den Waldrand erreichten. Sie entschlüpften den Bäumen wie
einem geschlossenen Vorhang, und sofort sogen sie die Luft tiefer in ihre
Lungen.
    »Jetzt sind wir fast
schon im Dorf«, meinte Anselmo. »Wenn überhaupt etwas geschieht, dann dort.«
    »Ihr darf nichts
zustoßen. Ihr darf einfach nichts zustoßen.« Abermals ließ Bernina ihren Blick
durch die Dunkelheit huschen.
    Die Wolken hatten sich
wie von Geisterhand verzogen. Die Nacht gehörte wieder allein dem Halbmond, der
sogleich heller auf die umliegenden Hügelkuppen, Wiesen und Felder zu strahlen
schien. In der Ferne zeichneten sich die Dächer und der Turm der Kirche ab.
    »Endlich!«, sagte
Bernina leise.
    Sie wusste nur zu gut,
welche tiefen Ängste solche Nächte wecken konnten. Die Dunkelheit war immer
noch eine Macht, die sich nicht erobern ließ und die imstande war, die ganze
Welt in eisernem Griff festzuhalten. Die Menschen fühlten sich dann von Dämonen
umzingelt, sahen in der Finsternis Geisterwesen, die sie verfolgten, um Blut
fließen zu lassen. Und am Ende trachteten die Leute selbst nach Blut. Ja,
Bernina war sich im Klaren darüber, was in solchen Nächten passieren konnte.
    Nicht mehr nur ihr
Nacken, ihr gesamter Oberkörper war inzwischen schweißbedeckt. Die Hitze in ihr
und die Kühle um sie herum ließen eine unangenehme Gänsehaut entstehen. Als
wären es tote, unbewohnte Gebäude, lagen die Häuser Teichdorfs da. Kein Fenster
erleuchtet, keine von Mauern gedämpfte Stimmen, nicht einmal das Kreischen
einer streunenden Katze.
    »Womöglich hat Blum die
Leute in der Kirche versammelt«, mutmaßte Anselmo, als er eingangs der Hauptstraße
stehen blieb. »Um seine Taten erst von seinem Gott absegnen zu lassen.«
    »Warte doch erst einmal
ab«, entgegnete Bernina. »Wir wissen ja noch gar nicht, was los ist.« Sie holte
tief Luft. »Vielleicht hat Baldus auch nur etwas falsch verstanden.«
    »Ein Missverständnis?«
Voller Zweifel sah er sich um. Dann bohrte sich sein Zeigefinger in die Luft.
»Dort!«
    Am anderen Ende der
kleinen Ortschaft flammten Lichtpunkte auf.
    »Das ist am Weidenberg.«
Bernina betrachtete das entfernte Flackern. »Los, Anselmo, ich muss unbedingt
wissen, was da vorgeht.«
    Erneut rannten sie durch
die Nacht, so nah beieinander, dass sich ihre Hände und Ärmel immer wieder
streiften. Sie folgten der Hauptstraße, die Teichdorf der Länge nach
durchschnitt. Nicht weit von ihnen ragte der Kirchturm in den Himmel. Geradeaus
vor ihnen erhob sich der Weidenberg, der kein Berg, sondern eigentlich nur ein
nackter, baumloser Hügel war und sich aus östlicher Richtung ans Dorf drückte.
Ein Wind war aufgekommen und strich in
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