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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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oder nach dem Sonntagsgottesdienst grüßte er lediglich auf besonders
zurückhaltende Weise, wenn er Bernina in die Augen sah. Was sie verband, war
nichts, das in Worte zu fassen war, sondern ein tieferes Wissen um die
Schrecken der Vergangenheit.
    Der
Winter gab sich endlich geschlagen, sogar schneller als befürchtet, und
Berninas Bauch war zu einer schönen makellosen Kugel angeschwollen. Dass
spätestens jetzt das Gerede einsetzen würde, war unausweichlich, doch sie würde
sich nicht darum kümmern. Außerdem waren die Leute nach wie vor überaus nett zu
ihr – sie hatten ihren Frieden mit Bernina und den Krähen geschlossen. Es
ließen sich sogar ohne Weiteres wieder Knechte und Mägde finden, die auf dem
Petersthal-Hof arbeiten wollten. Und das war auch wichtig, denn der anbrechende
Frühling würde große Kraftanstrengungen erfordern. Zumal Bernina auf sich Acht
geben und schonen musste. Doch Baldus wurde zu einer immer größeren Stütze.
    Als
vom Schnee nichts mehr übrig war und sich eine erste Wärme in die Luft verlor,
ertappte sich Bernina manchmal dabei, wie sie zu der versteckten kleinen
Lichtung in der Nähe des Hofes aufbrach. Sie genoss die Einsamkeit des Ortes,
an dem noch immer irgendwo das Holzkästchen mit Elenas Brief an Anselmo
vergraben war. Wie würde die stolze Spanierin auf die Nachricht vom Tod ihres
Sohnes reagieren? Hatte sie überhaupt schon davon erfahren?
    Während
Bernina in der Abenddämmerung den Rückweg zum Hof einschlug, hörte sie das
vertraute Geräusch von Flügelschlag über sich. Sie blickte auf und sah die
Krähen über den Wipfeln in der Luft rudern. Das Gefieder schimmerte merkwürdig
in der untergehenden Sonne, wie der Stahl eines Degens, dann wieder fast blau.
Vielleicht hatte ihre Mutter ja doch recht gehabt, vielleicht gab es blaue
Krähen. Denn diese Vögel, die sich nun in die Weite des Himmels tragen ließen,
waren andere als jene, die einst auf dem Weizenfeld nach den Augen der Kinder
gepickt hatten. Ja, es gibt sie, sagte Bernina lautlos. Es gibt blaue Krähen.
Ein letztes Krächzen erklang, und darin lag ein Ton, der Bernina einen
komischen Moment lang ganz stark an die Stimme ihrer Mutter erinnerte.
    Plötzlich jedoch blieb
sie wie erstarrt stehen. Zwei geschlitzte Augen funkelten ihr entgegen –
genauso wie an einem bestimmten Tag, der scheinbar eine Ewigkeit zurücklag.
    Unwillkürlich hielt sie
die Luft an.
    Unter den Augen wurden
Fangzähne sichtbar. Ein Fletschen, ein Knurren, leise, und gerade deshalb umso
bedrohlicher. Im Fell ein auffälliger silberner Streifen.
    Obwohl
Bernina sich das Tier nie eingeprägt hatte, wusste sie, dass es dieselbe Wölfin
war. Jene Wölfin, die damals vor Nils Norby stand und die er einfach nicht
töten konnte.
    Schmaler wirkte das
Tier, irgendwie abgekämpft oder erschöpft, das Fell war weniger dicht.
Anscheinend lag hinter ihm eine ähnlich harte Zeit wie hinter Bernina, die sich
immer noch nicht zu rühren vermochte.
    Dafür kam Bewegung in
die Wölfin. Schritt für Schritt näherte sie sich der jungen Frau, langsam,
geschmeidig, mit einem erneuten Knurren.
    In das Grollen mischte
sich ein anderer Laut, ein Surren – und die Wölfin erstarrte. Ein Pfeilschaft
ragte aus ihrer Seite. Das Funkeln in ihren Augen erlosch, sie sackte zusammen
und starb.
    Bernina schnappte nach
Luft, dann sah sie auf. Eine Gestalt löste sich aus dem Schutz der Bäume und
kam ähnlich langsam, ähnlich geschmeidig auf sie zu wie zuvor das wilde Tier,
um ein paar Schritte von ihr entfernt stehen zu bleiben. Und wiederum waren es
zwei eindrucksvolle Augen, die Bernina musterten.
    Mühsam rang sie nach
Atem, fand aber doch ihre Worte wieder: »Hast du nicht schon einmal gesagt, du
würdest aus der Gegend verschwinden – und dann bist du in der entscheidenden
Sekunde zur Stelle gewesen?«
    Nils Norby zwinkerte ihr
ironisch zu und hob kurz die Schultern. »Es ist wohl so, dass diese Gegend mich
irgendwie anzuziehen scheint.« Er deutete auf ihren Bauch. »Sieht ganz danach
aus, als wärst du bald nicht mehr allein.«
    Sie nickte nur.
    »Darf ich fragen, wer
der Vater ist?«
    »Was glaubst du?«
    »Ich denke, dass es
höchste Zeit für mich war, zu dir zurückzukehren. Und zu meinem Sohn.«
    »Oder zu deiner
Tochter«, antwortete sie mit einem leisen Lachen. »Was hast du in den letzten
Monaten getan?«
    »Ich habe versucht, dich
zu vergessen.«
    Nun war sie es, die auf
ihn zuging, ohne dabei etwas zu erwidern, sein Gesicht fest im
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