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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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sich vom Wohnhaus ausgehend durch die
Luft. Plötzlich auch ein Lichtschein hinter einem der Fenster im Erdgeschoss,
wahrscheinlich von einer eben entzündeten Kerze. Es war eine liebliche Weise,
die auf einer Geige erklang, und doch war es die Melodie des Todes. Oft hatte
sie in der Vergangenheit über den Dächern Teichdorfs geschwebt. Auch Bernina
hatte sie einmal im Turmgefängnis hören können. Und genau wie damals liefen
eisige Schauer über ihren Rücken. Also war er doch entkommen, der
Geigenspieler. Wie viele seiner Getreuen mochten noch bei ihm sein? Gewiss
nicht mehr viele, womöglich nur sein Sohn. Die goldene Rose war doch längst
schon besiegt. Aber offenbar noch nicht ganz.
    Eines der Zugpferde
schnaubte auf, vielleicht erschöpft, vielleicht hungrig, und sofort erstarb die
Musik. Das Licht hinter dem Fenster löste sich mit einem letzten Flackern auf.
Und gleich darauf traten zwei Gestalten vor die Tür, wobei die erste die zweite
stützen musste. Die Dunkelheit schob sich noch ein Stück näher an das Tal
heran, und ein Wind zischte an den Gebäuden vorüber.
    Das war der Moment.
    Der Moment, der über
alles entschied.
    Neuanfang oder Ende. Tod
oder Leben.
    Ein Schuss fiel und Nils
Norby stürzte seitlich aus dem Sattel. Noch immer die kalten Schauer auf
Berninas Rücken, noch immer war sie wie gelähmt. Baldus sprang vom Bock und
lief wieselflink auf Norby zu. Dennoch nicht schnell genug – Domingo Alvarado
war schon da und schlug mit der Pistole zu, die er gerade noch abgefeuert
hatte. Ein trockenes Geräusch, als der Lauf auf den Schädel des Knechts traf.
Baldus kam hart im Schnee auf. Der Schnee unter seinem Kopf färbte sich dunkel.
Domingo, der 16- oder 17-Jährige, der das Gesicht Anselmos hatte, ließ die
Waffe fallen, da ein Nachladen zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Er zog
den Degen aus der Scheide. Sein Blick richtete sich auf Bernina. Schwarz seine
Augen, ganz anders als die Anselmos. Tödlich, erbarmungslos.
    Sein Vater humpelte,
gestützt von der Krücke heran. In seiner freien Hand lag ebenfalls eine
Pistole, die er nun anhob. Die Mündung suchte Bernina. »Sie sind ausgesprochen
hartnäckig, junge Dame.« Die Worte im spanischen Akzent erfüllten die Luft.
»Und letztes Mal hatten Sie reichlich Glück, mit dem Leben davongekommen zu
sein. Heute allerdings sieht es nicht danach aus.«
    Das Krachen eines
Schusses.
    Bernina regte sich
nicht. Kein Schmerz, überhaupt nichts. Alles in ihr war völlig taub.
    Dafür geriet Ernesto
Alvarado ins Schwanken. Seine Augen verdrehten sich und er fiel nach hinten zu
Boden. Ohne einen Todesschrei, lautlos vollzog er seinen letzten Atemzug.
    Mit wiegendem Gang kam
Nils Norby auf Domingo zu, der ihm entsetzt entgegenstarrte. Der Schwede ließ
lässig seine Pistole fallen und zückte seinerseits den Degen. Der Stoff seines
Umhangs war an der Schulter zerfetzt, doch offenbar war er unverletzt.
    »Bist du bereit für
deinen letzten Kampf, Kleiner?«
    Domingo Alvarado hob den
Degen an. Er nickte, und trotz der Kälte perlte Schweiß auf seiner Stirn.
    »Halt!« Berninas Ruf
schallte über den Petersthal-Hof hinweg. Sie sprang vom Wagen und verlangte von
Norby den Degen.
    »Bist du verrückt?«, fragte
er verblüfft.
    Ohne
ein Wort zu sagen, nahm sie ihm die Waffe aus der Hand. »Ich will zeigen, was
für eine gute Fechterin ich geworden bin.«
    Ihre
Klinge surrte auf den Letzten der Alvarados zu, doch der Junge parierte. Er war
geschickt, er war schnell. Allerdings fehlte ihm die Entschlossenheit, die
Bernina gepackt hatte, ihm fehlte das, was sie erlebt hatte, ihm fehlte der
Zorn in ihrem Blick. Es dauerte nicht lange, und der Degen Domingo Alvarados
wurde durch die Luft geschleudert. Steif blieb der Junge stehen, die Spitze von
Berninas Waffe berührte den Leinenstoff auf seiner Brust, dort, wo sein Herz
schlug. Als ihn endlich die nackte Angst um sein Leben überwältigte, sah er zum
ersten Mal so aus, wie es seinem Alter entsprach. Erst dann wurde er zu einem
Jungen.
    »Bitte«, stammelte er,
»bitte, bitte …«
    »Bernina, überleg dir
gut«, ertönte Norbys Stimme, »wie du die Sache zu Ende bringst.«
    »Das habe ich längst
entschieden«, entgegnete sie vollkommen ruhig. Ihr Blick umschloss den Jungen,
ließ ihn erzittern.
    »Bitte …«, stammelte er
schon wieder.
    »Lauf, Junge«, zischte
Bernina. »Lauf, so schnell dich deine Beine tragen, und hör erst auf zu laufen,
wenn sie unter dir nachgeben.«
    Noch bevor er ein
Aufwallen von
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