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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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Weise
angesehen«, wiederholte Norby mit einer gewissen Betonung. »Mir scheint, das
hing mit etwas ganz anderem zusammen.«
    Und das Rot im Gesicht
des Pfarrers wurde gleich noch tiefer. »Ich weiß nicht, wie Sie beide
zusammengekommen sind, aber Herr Norby hat durchaus recht.«
    »Ich verstehe nicht«,
erklärte Bernina mit gerunzelter Stirn.
    Der Schwede sah ihr tief
in die Augen und meinte jetzt ohne jede Ironie: »Du hast es dem Herrn Pfarrer
angetan, Bernina.«
    »So lapidar kann man es
ausdrücken«, fügte Blum hinzu. Und dann legte sich auch sein Blick auf Bernina.
»Ich verstand es selbst nicht, aber ich musste immerzu an Sie denken. Ihr
Gesicht verfolgte mich, Ihre Gestalt. Auch Ihre Stimme, nachdem wir einmal ein
paar Floskeln ausgetauscht hatten. Dann kamen die Gerüchte über Sie auf. Und
ich glaubte zu erkennen, was das zu bedeuten hatte: Der Herr wollte mich
prüfen. Und Sie, Bernina, sollten meine Prüfung sein. Würde ich es schaffen,
das Wort Gottes auch gegenüber jener Frau zu vertreten, die meine Sinne derart
verwirrte? Ich wollte mich nicht beirren lassen, von überhaupt nichts, schon
gar nicht von irgendwelchen flirrenden Gefühlen …« Erneut senkte er die Augen.
»Ich war entschlossen, dem Herrn zu zeigen, dass ich stark genug war. Stark
genug sogar, jener Frau ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen, die mich so in
Verwirrung versetzte.« Und dann, nach einer langen Pause, fügte er leise hinzu:
»Doch ich war nicht stark genug.«
    Die Erkenntnis fiel auf
Bernina wie ein plötzlicher Schatten. »Sie waren es!«, stieß sie hervor. »Sie
waren es, der Baldus den Schlüssel zusteckte. Sie gaben den Anstoß dafür, dass
ich aus dem Gefängnis gerettet wurde.«
    Egidius Blum nickte kaum
merklich. »Ja, so ist es. Ich sah diesen Gnom, der auf Ihrem Hof arbeitete und
ständig um den Gefängnisturm herumschlich. Ich ahnte, dass er einiges für Sie
in die Waagschale werfen würde. Und letzten Endes überließ ich dem Herrn die
Entscheidung. Ich befreite Sie nicht, aber ich setzte etwas in Gang, das Ihre
Rettung bedeuten konnte. Alvarado ließ sie verfolgen. Ich war dagegen und
sagte, es genüge, dass Sie nicht mehr hier seien. Doch das Böse ist so
unglaublich tief in diesem Menschen verwurzelt. Ihm wäre es lieber gewesen, Sie
tot zu wissen. ›Keine Zeugen, keine Sorgen‹, ist sein Wahlspruch.« Blum seufzte
auf. »So ließ ich die Dinge ihren Lauf nehmen. Und heute sehe ich: Der Herr
entschied sich für Sie, Bernina.« Wiederum ein tiefes kehliges Aufseufzen.
»Damals jedenfalls, als Ihnen die Flucht gelang, veränderte sich plötzlich auch
für mich etwas. Ich begann, anders zu denken. Ich begann, Teichdorf zu sehen,
wie es war. Wie es durch mein Zutun geworden war. Und endlich, endlich erkannte
ich, dass ich blind gewesen war. Ja, sogar blindwütig. Doch das, was ich
ausgelöst hatte, war längst nicht mehr aufzuhalten.«
    Bernina brauchte eine
ganze Weile, um die Worte in sich aufzunehmen. Sie spürte die Kälte nicht, die
den Speisesaal beherrschte, und achtete auch nicht auf Norby, dessen Blick
geduldig auf ihr ruhte. Schließlich beendete sie die entstandene Stille: »Und
was geschah dann? Wie gelangten Sie hierher, Pfarrer Blum?«
    »Als ich auch noch
erfuhr, was sich wirklich auf dem Feld mit den Krähen zugetragen hatte, war ich
verzweifelt und beschämt. Endlich begann ich, Ernesto Alvarado zu
widersprechen. Ich unterstützte sein Spiel nicht mehr, ich weigerte mich, auf
seine Wünsche einzugehen. Und ich spürte, dass Alvarado nicht zögern würde,
auch mich umzubringen. Mitten in der Nacht trat ich die Flucht an. Die Gemeinde,
die mir anvertraut wurde, die mir so viel bedeutet hatte, ließ ich einfach im
Stich.«
    »Und hier suchten Sie
Schutz?«, wandte sich Norby an den Pfarrer.
    »Nicht Schutz, sondern
Einsamkeit. Ich wusste, dass Kloster Murnau aus Angst vor den Franzosen kurz zuvor
überstürzt aufgegeben worden war. Am liebsten hätte ich mir das Leben genommen,
jedoch fehlte mir der Mut dazu. So kam ich nach Murnau, ein geschlagener,
zweifelnder Mensch, der alles falsch gemacht hatte. Wenn Hunger und
Kraftlosigkeit unerträglich wurden, schlich ich nachts auf Höfe in der
Umgebung, um etwas Essbares zu stehlen. Es entstanden schon Gerüchte, im
verlassenen Kloster treibe ein Gespenst sein Unwesen. Monat für Monat zog so
dahin.« Er ließ sich auf eine der Bänke fallen und starrte wieder vor sich hin.
»In diesem Leben gibt es nichts mehr für mich zu tun.«
    »Halt!«,
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