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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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leichten Böen um die Ecken der Häuser.
    Plötzlich
war die Nacht nicht mehr leblos. Menschen, dunkel gekleidet, zogen sich in
einer langen Kette vom Ende Teichdorfs bis auf halber Höhe den Weidenberg
hinauf. Die Lichtpunkte wurden größer. Sie stammten von den Fackeln, die links
und rechts der Gruppe Gefangener Helligkeit warfen. Bewacht wurde die Gruppe
von den Soldaten mit den schwarzen Augen und den roten Umhängen, die vor Kurzem
im Ort angekommen waren. Piken und Läufe von Musketen schimmerten im
Feuerschein.
    Bernina und Anselmo
stießen die Neugierigen beiseite, wühlten sich durch die Schlange, die
unnatürlich still war, von der nur hier und da verhaltenes Gemurmel ausging.
Sie kamen den Fackeln und den Soldaten näher, doch noch vermochten sie die
Gesichter der Gefangenen nicht zu erkennen.
    »Was sollen wir bloß
tun, wenn Mutter unter ihnen ist?«, raunte Bernina Anselmo zu.
    »Still!«, zischte er nur
zurück.
    Er hatte Berninas Hand
ergriffen und schob sich immer weiter nach vorn, immer höher den Weidenberg
hinauf, bis sie dem Geschehen schließlich so nahe waren, dass sie die
furchtbaren Einzelheiten sehen konnten.
    Berninas Blick jagte von
einer jener erschöpften, gequälten und mittlerweile schicksalsergebenen Mienen
zur nächsten. Es war fast ein Dutzend.
    Tränen der
Erleichterung, die sie gar nicht wahrnahm, verloren sich auf ihren Wangen. »Sie
ist nicht dabei«, seufzte sie leise auf. »Mutter ist nicht dabei.«
    Anselmo ging nun
langsamer. Er und Bernina waren von der Menge geschluckt worden. Bernina befand
sich so dicht hinter ihm, dass ihre Nasenspitze manchmal in sein dichtes
schwarzes Haar stieß. Nicht nur erleichtert, nach wie vor voller Anspannung
spähte sie über seine Schulter.
    »Nein, sie ist nicht
da«, flüsterte er. »Hoffen wir, dass sie sich wirklich in Sicherheit befindet.«
    »Meine Güte! Sieh dir
nur diese armen Menschen an.«
    Das Licht der Fackeln
erwischte nicht nur die Gesichter. Auch die Blutflecken, die die zerrissene
Kleidung übersäten, auch die von Daumenschrauben zerquetschten, von
eingetrocknetem Blut schwarz gefärbten Finger, auch die Beine, von verdreckten
Lappen notdürftig verbunden, die mühsam und unter Schmerzen bei jedem Schritt
hinterher gezogen wurden.
    Anselmo deutete kurz auf
einen der Hinkenden. »Der Spanische Stiefel. Weißt du, was das bedeutet?«
    Sie wusste es. So wurde
eine Art Schraubstock genannt, der aus vier scharf gezackten Eisenplatten
bestand, zwischen denen innerhalb von Augenblicken Schienbeine zerquetscht
wurden. Der Spanische Stiefel war bekannt dafür, bei Verhören eingesetzt zu
werden. Unzählige Frauen und Männer, die bezichtigt wurden, sich der Hexerei
verschrieben zu haben, hatten bereits seine grausame Bekanntschaft gemacht.
    Der gespenstische Zug
aus Leibern gelangte an den kleinen, abgeflachten Gipfel des Weidenberges, und
hier erstarrte alles in Bewegungslosigkeit. Hohes Rispengras, selbst in der
Nacht noch sichtbar bleich von den kalten Monaten, wehte im nächtlichen Wind um
Waden und Knie.
    Mit knappem, beinahe
ausdruckslosem Nicken machte Anselmo Bernina auf etwas aufmerksam, das sie
bislang überhaupt nicht bemerkt hatte. Ein Stück entfernt, inmitten des sich
sanft wellenden Grases, standen Pfähle, die von prallen Reisighaufen umkränzt
wurden.
    »Oh mein Gott«, entfuhr
es Bernina.
    Die Menschen verteilten
sich, weiterhin beklemmend leise, fächerförmig um die Pfähle, wie auf einen
unhörbaren Befehl. Aus der Spitze des Zuges hatte sich ein Mann gelöst, der
seine Arme ausbreitete, die Handflächen zum Himmel erhoben. Zuerst hatte er
noch ein paar Worte mit zweien dieser bewaffneten, schwarzäugigen Fremden gewechselt,
die seit ihrem Eintreffen Tag für Tag auf den Straßen von Teichdorf gesehen
wurden.
    Jetzt stand der Mann
etwas abseits, damit er von allen gut auszumachen war. Das wie immer sehr
einfache Gewand des Geistlichen war bereits ziemlich zerschlissen, die ebenso
einfachen Bastschuhe waren löchrig. Gerade dadurch allerdings wirkten seine
beherrschten Gesten umso getragener, gewichtiger.
    Er begann ein Gebet zu
sprechen. Mit hartem Klang kreiste seine Stimme den Weidenberg ein. Doch
Bernina war es nicht möglich, auch nur eines seiner Worte aufzunehmen. Sie
konnte ihn einfach bloß ansehen: seine schimmernde Glatze, der Ring kurz
geschorenen Haars, der Bart, der sich um den Unterkiefer schmiegte wie ein
heruntergerutschter Knebel. Und seine Augen, die auf die Fackeln starrten, als
wären ihre
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