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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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ausführlich, obwohl ich nicht danach gefragt hatte.
    Beim Treffen wohnten die Internatsschülerinnen in einem Motel und redeten die ganze Nacht durch. Ich hätte ihnen nichts zu sagen gehabt, aber Charley meinte, sie hätten sich nach mir erkundigt. Eines fand ich dann doch interessant. Einige von ihnen gingen in den dritten Stock der Residenz hinauf, um sich ihre alten Zimmer anzusehen, die nicht mehr benutzt werden. Die Bäder waren noch intakt, auch die Badewannen mit den Klauenfüßen und den separaten Wasserhähnen für warm und kalt. »Es ist so primitiv«, sagte Charley. »Heute würde man die Schule dafür verklagen. Wir haben uns immer verbrüht.«
    Aber ich hörte Charley nicht mehr zu. Ich dachte daran, wie ich mich in einer dieser großen Wannen im tiefen, brühheißen Wasser ausstreckte, während der Dampf an die Decke stieg. Ich dachte an Haare, die sich wie goldenes Schilf im Wasser ausbreiteten. Die ertrunkene Ophelia mit harten, rosigen Brüsten. Sie schloss die Augen und ließ den Kopf unter Wasser gleiten. Ihre Atemblasen stiegen hoch und verweilten einen Moment, bevor sie platzten. Es war mir nie peinlich. Wir waren beide so glücklich.
    Als ich die nächste Ausgabe der Brangwyn Echoes erhielt, blätterte ich nach hinten, wo immer die Fotos der Klassentreffen abgedruckt sind. Das Bild war genau, wie ich es erwartet hatte: Sie waren mit Perlenketten und fröhlichem Lächeln geboren, um der unbarmherzig verrinnenden Zeit zu begegnen. Ich hatte im Grunde nicht damit gerechnet, ein Gesicht zu erkennen.
    Irgendwie bin ich froh, dass sie gestorben ist und ich ihr Gesicht nicht neben jenen sehen musste.
    Wenn ich mich aufmerksam im Spiegel betrachte, kommt mir mein Gesicht fremd vor. Ich bin nicht an die Falten um Augen und Mund gewöhnt, es ist, als hätte ich die Fäden eines Spinnennetzes weggewischt, in dem ich mich letztlich doch verfangen werde. Aber darum ging es bei meiner so genannten Genesung, ich musste akzeptieren, dass ich älter werden würde, eine Frau, Kinder bekommen, mir das Haar färben, Hitzewallungen und nächtliche Schweißausbrüche durchleben. Ich musste die Kindheit loslassen. Meinen Vater loslassen. Ihm seine Verzweiflung verzeihen.
    Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht in jenes Jahr zurückkehren. Dieses Tagebuch kann es nicht auferstehen lassen. Ein Nebel hängt darüber. Ich kann ihn mit einem hauchfeinen Seufzen wegblasen, doch er treibt gleich darauf wieder herbei und verhüllt alles.
    Es war schwer, das Mädchen aufzugeben, das so zwanghaft in sein karminrotes Notizbuch schrieb, zu sehen, wie es in das schwarze Loch der Vergangenheit gesogen wurde. Dieses Mädchen war in sich gefangen, aber auch qualvoll lebendig, als wäre es ohne Haut geboren. Insgeheim wollten alle seinen Schmerz. Er verzehrte das Mädchen, bis nichts mehr übrig war. Ich empfand Zuneigung für sie, weitaus mehr Zuneigung als für den Menschen, der an ihre Stelle getreten ist. Sie hatte einen Vater, und ich habe keinen.
    Aber ich musste es tun, um zu leben. So wie meine Mutter einen anderen Mann geheiratet hat. Das habe ich ihr nie vorgeworfen.
    Und dann, eines Tages, war ich älter als mein Vater bei seinem Tod. Damit hatte ich nie gerechnet. Ich kam mir plötzlich so alt vor. Ich wusste, dass er nicht auf mich wartete. Er war für immer gegangen.
    War er dorthin gegangen, wohin die beiden gegangen sind, in jene endlose Abfolge von Tagen?
    Manchmal taucht das Bild der beiden vor mir auf, unverlangt, wie ein Traum. Sie treiben irgendwo dahin, weder glücklich noch tot, jung, ungebunden, frei. Sie haben die Arme weit ausgebreitet, Haar und Kleider umwogen sie. Sie befinden sich an einem Ort ohne Schwerkraft, ohne Empfindung. Nichts zerrt an ihnen.
    Es stimmt, dass ich nie erwachsen werden wollte. Doch wie wichtig war sie wirklich – die Entscheidung, ein Mensch zu sein?
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