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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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auf mich.
    »Sieh dich an«, rief ich. »Sag mir, dass du nicht krank aussiehst. Du kannst doch kaum aufrecht stehen.«
    »Sieh dich selbst an«, flüsterte Lucy.
    In unseren weißen Blusen, den langen blauen Röcken, mit unserer blassen Haut und den rot geränderten Augen sahen wir beide geisterhaft aus, als wären wir gar nicht richtig da. Sie war nicht mehr hübsch, aber das hatte mich auch nie wirklich interessiert. Mein Gesicht war nass von Tränen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte.
    »Lass mich bitte allein«, sagte Lucy. »Ich kann es nicht ertragen, dich dauernd um mich zu haben, du willst mich ja nur ganz für dich haben. Du bist eine beschissene Klette. Du ziehst mich runter mit deinem ganzen Leiden.«
    »Du hast nie etwas gesagt.«
    »Wir habe nur noch anderthalb Monate Schule. Wir müssten es eigentlich schaffen, ohne die Zimmer zu tauschen.«
    Ich ging in mein Zimmer und schloss die Badezimmertür. Ich rede nie wieder mit ihr. Niemals. Ich verstehe nicht mal, was passiert ist. Sie war immer so reizend, schaute mit ihrem dummen Lächeln zu mir auf.
    Ich zwang mich, zum Abendessen zu gehen. Sie sollte nicht merken, wie sehr sie mich verletzt hatte. Wie sehr sie mich leiden lässt. Beim Abendessen wirkte sie lebhafter. Mein Schmerz hat ihr Kraft verliehen. Ich war verzweifelt. Ich werde ihre Mutter nicht anrufen. Ich halte mich da raus. Ich aß, die Augen auf den Teller gerichtet. Ich wollte nicht Lucy am Nebentisch sehen, die lachte und redete, als wäre nichts geschehen. Sie ist erleichtert, weil sie mich endlich los ist. Ich war nur die, die sie unter ihre Fittiche nahm wie einen verletzten Vogel, weil ich ihr so Leid tat. Doch letztlich war ich ihr zu anstrengend. Nach einer schnellen Tasse Kaffee rannte ich in mein Zimmer und setzte mich mit dem Tagebuch an den Schreibtisch. Aber ich konnte nicht schreiben. Ich lauschte auf die Mädchen, die vom Abendessen kamen und in ihre Zimmer gingen. Ihre Stimmen im Flur klangen so glücklich! Sie machten sich keine Sorgen. Einige lachten. Sie ließen mich alle im Stich. Lucy spricht nur aus, was alle denken.
    Ich bin seit drei Jahren hier, und ich fühle mich genau wie in der ersten Woche, als ich nach dem Essen nach oben eilte, mich einschloss und auf die Mädchen im Flur horchte. Alle Türen standen offen. Nur meine war zu. Sie lebten in einer Welt, in die ich nicht hineinfand. Wie sollte ich je lernen, wie sie zu sein? Ich würde mich Tag für Tag in meinem Zimmer einschließen, lesen, auf die an- und abschwellenden Stimmen hören und mich nur nach meinem Vater sehnen. Sie hatte den Schlüssel und öffnete meine Zelle. Darum liebte ich sie so sehr.
    Ich weinte, als ich unser Spiegelbild sah, so sehr hatten wir uns verändert.
    Falls ich nicht mehr der Mensch bin, der ich war, kenne ich auch niemanden mehr um mich herum.
Licht aus
    Nach der Ruhezeit schlich ich mich zum Münztelefon hinten in der Garderobe. Ich hatte die Taschen voller Kleingeld. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer. Meine Finger blieben in den Löchern stecken. Ich betete, dass mich keiner sah. Das Telefon klingelte vier- oder fünfmal, bevor sich jemand meldete. Pause, schwerer Atem, eine raue Stimme. Mit ihm hatte ich nicht gerechnet. Ich war davon ausgegangen, ihre Mutter würde rangehen. Er stand neben dem Telefon in der Küche, in Unterwäsche, keuchend, das Gesicht tiefrot und speckig. Der Hund sprang bellend neben ihm herum. »Hallo. Hallo? Hallo?«
    Ich hängte ein.

Mai
2. Mai
Sieben Uhr morgens
     
    Eine Fliege summte – als ich starb –
    Im Raum die Stille schwoll
    So wie die Stille in der Luft –
    Wenn ein Sturm Atem holt –
     
    Die Augen rings – schon ausgepresst –
    Der Puls harrte gefasst
    Des letzten Akts – da Er im Raum
    Sich Fürstlich – offenbart –
     
    Andenken hatte ich – vermacht
    Und von mir überschrieben
    Was übertragbar war – da schob
    die Fliege sich dazwischen
     
    Mit Blauem – taumelndem Gebrumm –
    Zwischen das Licht – und mich –
    Die Fenster schwanden mir – und dann
    Verlor mein Sehn die Sicht –
     
    Warum hält sie mir dauernd Vorträge? Es klingt wie eine Predigt. Die Predigerin Emily bekehrt die Jüdin. Ich halte mir die Ohren zu. Ich schließe die Augen.
Neun Uhr abends
    Ich kann nicht den richtigen Stift finden, um das hier zu schreiben. Keiner liegt angenehm in meiner Hand. Ich nahm meinen Füller, aber er ist verstopft. Die Feder kratzt über das Papier und lässt kleine Tränen fallen. Ich kann nicht
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