Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
Vom Netzwerk:
»verfing«, völlig egal.
    »Uns ist zu Ohren gekommen, besser gesagt, mehrere Mädchen haben uns berichtet, dass du etwas Unangemessenes getan haben sollst. Etwas Inakzeptables. Du hast … Exkremente vor die Tür deiner Zimmernachbarin gelegt. Stimmt das?«
    Niemand hatte mich dabei gesehen. Da war ich mir sicher. Es war mitten in der Nacht. Und hatte kaum gerochen. Man merkte es kaum. Nur eine Spur, mehr war nicht nötig. Um den Türrahmen, über den Holzboden, alles musste bedeckt sein. Nur jemand mit einem überentwickelten Geruchssinn hätte es merken können. Selbst das Ammoniak, mit dem sie es entfernt hatten, roch schlimmer. Alle haben sich die Nase zugehalten, als sie an Lucys Zimmer vorbeikamen. Ich schaute zu Boden und lächelte verlegen. Ich wollte mich genauso verhalten, wie sie es von mir erwartete.
    »Es war ein Scherz. Zwischen Lucy und mir«, sagte ich ganz leise. »Ich hätte es nicht tun sollen.«
    »Ein Scherz? Was für ein Scherz soll das sein?«, fragte Miss Brody
    »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte ich.
    »Wenn du solche Impulse verspürst, musst du versuchen, sie zu sublimieren und dich in einer sozial akzeptablen Weise zu verhalten.«
    Perlenketten statt Rosenkränze, das ist die eigentliche Religion dieser Schule. Ich sagte ihr nicht, dass mir spät am Abend klar geworden war, dass ich Lucy nur retten konnte, indem ich etwas ganz Extremes tat. Und dass sie dem niemals zustimmen würde. Wie sollte ich vor mir selber bestehen, wenn ich zu feige war, um das Äußerste zu ihrem Schutz zu unternehmen? Selbst wenn es so widerlich war, dass ich mein Tagebuch nicht damit beschmutzen wollte. Und es wirkte. In den beiden Tagen, in denen die Sperre an ihrer Tür war, ging es Lucy gut. Am Montag und Dienstag stand sie morgens auf, frühstückte, ging zum Unterricht. Sie war wieder lebendig. Niemand sagte, wie gut sie aussah, weil es ihnen auch nicht auffällt, wenn sie sich mit eingefallenen Augen, grauer Haut und ungekämmten Haaren durch die Schule schleppt. Ihnen fällt nie etwas auf.
    Ich lächelte Miss Brody an und beantwortete ihre Fragen mit einem Nicken. Ich gestand meine Schuld ein. Warum auch nicht? Ich gab sogar zu, dass ich den Schmerz um meinen Vater nie verarbeitet hatte. »Trauern ist harte Arbeit«, sagte sie. »Härter als das Lernen vor einer Prüfung.« Sie sprach mit dumpfer, eintöniger Stimme. Ich verlor das Interesse. Meine Gedanken schweiften ab. Dann sprach sie nicht mehr über Schuld oder Trauer. »Manche Leute genießen die Aussicht auf den Tod«, sagte sie. »Schon der Gedanke daran tröstet sie, so als legte man sich ins Bett und zöge sich die Decke über den Kopf. Es ist keine Angst einflößende, sondern eine befreiende Erfahrung. Der Augenblick des Todes ist ekstatisch, ein unendlicher Genuss. Man wird in eine neue Existenz hineingeboren.« Zuerst dachte ich, sie machte Witze. Ich verstand nicht, was sie mir damit sagen wollte. Aber sie fuhr fort.
    »Du liest viel. Es ist, als läse man ein Buch und blätterte bis zum Ende weiter, weil man unbedingt wissen will, wie es ausgeht. Die Spannung ist unerträglich. Ich bin sicher, das hast du manchmal getan, hast einen Blick aufs Ende geworfen. Dieses Wissen kann eine solche Erleichterung sein.«
    Sie hielt inne und fragte dann: »Was hältst du davon? Hilft es dir weiter?«
    Schließlich blickte ich hoch. Sie saß seitlich, hatte mir eine Gesichtshälfte zugewandt. Ich konnte den Puder erkennen, der die Poren ihrer Haut bedeckte, die feinen Fältchen im Mundwinkel, die erschlaffende Haut unter dem Kinn. Sie war älter, als ich gedacht hatte. Dann nahm sie einen Stift und einen Schreibblock und wandte mir die andere Seite zu. Sie war so glatt und rosig, dass sie gar nicht wie Fleisch aussah. Dieses Gesicht war ohne Falten, Makel und Härchen. Ihre Gesichtshälften waren total verschieden, und ich wusste gar nicht mehr, wie sie zuerst ausgesehen hatte. Wie die linke Seite? Oder eher wie die rechte? Ich kam einfach nicht mehr drauf.
    »Meinst du, dein Gespräch mit Mr. Davies war lediglich der Ausdruck tief sitzender Ängste? Du glaubst doch nicht wirklich, was du ihm gesagt hast, oder?«, fragte Miss Brody.
    »Ich glaube kein Wort davon«, murmelte ich. »Ich war durcheinander. Wie alle. Mir geht es gut. Wirklich.«
    »Ich werde mit dem Arzt darüber sprechen. Vielleicht würde Valium dich beruhigen, dir durch diese schwierige Zeit helfen.«
    Wie sollte ich mich verteidigen, wenn ich keine Geheimnisse mehr hatte? Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher