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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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auf der Heimfahrt im Zug aussehe. Sie schleichen sich für den Fall, dass sie im Zug Jungs treffen, die sie kennen, im Bahnhof in den Waschraum und schminken sich und wechseln ihre Oxford-Schuhe gegen Slipper aus. Ich habe sie auf den Zug warten sehen, die Röcke über die Knie hochgezogen, sodass man kaum merkt, dass sie eine Uniform tragen. Uns Internen wäre es sogar egal, wenn wir wie Krankenschwestern aussähen.
    Jetzt bin ich hier und möchte weglaufen.
    Ich habe immer Angst, mich von meiner Mutter zu trennen. Ich habe Angst, sie nie wieder zu sehen. Ich möchte ihr wie ein kleines Mädchen hinterherlaufen, mich an ihrem Rock festhalten, nach ihrer Hand greifen, schniefen. Stattdessen stehe ich ganz steif da und sage kein Wort. »Kannst du dich nicht einmal von mir verabschieden?«, fragt sie. Nach einigen Tagen lenkt mich die Schule ab. Dann bin ich froh, nicht bei ihr zu sein, obwohl ich nur noch sie habe. Ich bekomme gern Briefe von ihr, hasse aber ihre Anrufe. Ich rufe sie nie an. Ihre Stimme klingt so schwer. Sie zieht einen herunter. Ich habe immer Angst, wenn ich ans Telefon gerufen werde. Es fällt mir unglaublich schwer, den Hörer ans Ohr zu halten. Er will mich verschlingen. Ich hebe ihn mühsam hoch, während der Mensch am anderen Ende in der Luft hängt, auf meine Stimme wartet.
    Von meinem Fenster aus sah ich, wie meine Mutter rasch die Auffahrt hinunterfuhr. Ihr Wagen verschwand hinter der Werkstatt. Als sie nach links abbog, konnte ich ihn wieder sehen, einen blauen Streifen, der durch den schwarzen Zaun hindurchblitzte. Und dann war sie weg. Meine Mutter fährt immer zu schnell; ihr ist egal, was mit ihr passiert. Lucys Mutter würde nie so fahren.
    Ich stand lange Zeit am Fenster. Dann drehte ich mich um und schaute in mein Zimmer, mein neues Zimmer, in dem sich Koffer, Taschen und Schachteln türmten. Es ist nicht so wunderbar, wie ich es mir den ganzen Sommer über ausgemalt habe. Die Wände sind schmutzig. Das Mädchen, das im letzten Jahr hier gewohnt hat, hat an komischen Stellen schwarze Fingerabdrücke hinterlassen. Der Boden ist kahl. Vor dem Fenster steht ein Sessel mit Holzarmlehnen, der mit einem dunkelgrün und rosa geblümten Stoff bezogen ist. Nicht gerade einladend. Ich glaube, ich lege ein paar Kissen auf die Fensterbank und mache einen Sitzplatz draus. Ich hatte es für das beste Zimmer in der Residenz gehalten. Wenn ich erst ausgepackt habe und Lucy nebenan wohnt, wird alles anders.
    Ich wurde es leid, auf Lucy zu warten, und unternahm einen Spaziergang zum Bahnhof. Im Schreibwarengeschäft neben dem Drugstore entdeckte ich ein altes französisches Aufsatzheft mit einem fleckigen, karminroten Einband und dickem, schwarzen Rücken, das wie ein richtiges Buch aussieht, nur mit leeren Seiten. Irgendwie war es hinten im Laden gelandet und vergessen worden. Ich ging damit zur Kasse, hielt es an die Brust gedrückt, als könnte es mir jemand wegschnappen. Genauso sahen die Tagebücher meines Vaters aus. Es war ein Zeichen, ich musste es kaufen. Nun werde ich es mit Worten füllen, so wie er seine Notizbücher gefüllt hat: die Seiten, die Ränder, das Titelblatt, alle mit kleinen Notizen bedeckt, aus denen keiner schlau wurde. Ich werde keinem davon erzählen, nicht einmal Lucy.
    Im Sommer habe ich die Claudine-Bücher gelesen. Sie waren ein Ersatz für die Schule, die ich so vermisst habe. Ich hoffe, die Worte werden aus meinem Füller aufs Papier fließen, wie sie es bei Colette taten: genau die Worte, die ich brauche. Zur Inspiration liegt Claudine erwacht auf meinem Schreibtisch. Sie weiß, was es bedeutet, an einem solchen Ort eingeschlossen zu sein, wo sich alle Gefühle auf die Mädchen um einen herum konzentrieren. Wo man zwar von einem Freund träumt, sich aber eigentlich nur wohl fühlt, wenn man den Arm um die Taille einer Freundin legt.
    Schon jetzt habe ich diesen Seiten zu viele traurige Gedanken anvertraut. Ich muss von vorn beginnen, ganz langsam und sorgfältig. Alles muss vollkommen sein. Ich habe es nicht eilig. Zuerst schlage ich das Notizbuch auf meinem Schreibtisch auf, streiche über die glatten Seiten mit den grünen Linien und schraube den Füller auf, den mir meine Mutter zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. Ich fülle schwarze Tinte aus einer Flasche in ein altes Tintenfass, das ich auf einem Schreibtisch im Übungsraum gefunden habe. Der beißende Geruch hängt in der Luft. Ein Schriftsteller-Geruch. Ich beginne vorn und schreibe in die obere rechte
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