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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma
Autoren: Camilla Grebe
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Von unten sieht alles ganz anders aus.
    Die starken Beine des großen Esstischs, die Tischplatte aus Eiche mit der kräftigen Maserung und den Kreidezeichnungen, die ihre Mutter Gott sei Dank noch nicht entdeckt hat. Die Tischdecke, die in schweren sahneweißen Falten nach unten fällt und sie verhüllt.
    Auch ihre Mutter sieht von unten ganz anders aus.
    Vorsichtig schiebt sie den Kopf aus dem Versteck und schaut zu ihr hinüber, wie sie am Herd steht und mit der einen Hand widerspenstige Spaghetti, die aussehen wie Mikadostäbchen, in den großen grauen Topf drückt, während sie mit der anderen raucht.
    Es knackt, wenn die Spaghetti unter dem Druck der Gabel brechen.
    Die abgewetzte Jeans ihrer Mutter hängt so tief über dem Hintern, dass man die Tätowierung im Kreuz und einen Teil der Unterhose sehen kann.
    Von unten sieht ihr Hintern riesig aus, und sie überlegt, ob sie ihrer Mutter das sagen soll. Die fragt immer wieder, ob ihr Hintern groß oder klein aussieht. Oft zwingt sie Henrik dazu, ihr diese Frage zu beantworten, obwohl er das gar nicht will. Er will sich lieber die galoppierenden Pferde im Fernsehen anschauen, während er sein Bier trinkt.
    Das nennt man Interesse.
    Die Mutter drückt die Zigarette in der Kaffeetasse aus, hebt mit ihren langen Fingernägeln ein paar Spaghetti auf, die neben dem Topf gelandet sind, und stopft sie sich in den Mund, als ob es Bonbons wären.
    Es knackt, wenn sie kaut.
    Sie selbst nimmt einen blauen Kreidestift und fängt an, sorgfältig das auszumalen, was blauer Himmel werden soll. Auf der Zeichnung gibt es schon ein Haus, ihr Haus, und davor ein rotes Auto; das werden sie kaufen, wenn ihre Mutter wieder Arbeit hat. Durch das Fenster sickert das grautrübe Licht des Herbstmorgens in die Küche, taucht den Raum in deprimierende dunkle Farben, aber in ihrem Versteck ist es auf gemütliche Weise düster. Nur ein wenig Licht stiehlt sich herein, gerade genug, damit sie das Papier sehen kann, das vor ihr auf dem Boden liegt, und damit sie die Farben der Kreidestifte erahnen kann.
    Aus dem Radio schwappt ein stetiger Strom von Musik, unterbrochen nur durch Werbung.
    Werbung ist, wenn sie reden, das hat sie schon verstanden. Werbung ist, wenn Henrik all das Bier, das er getrunken hat, aus sich herauspisst. Werbung ist auch, wenn ihre Mutter zum Rauchen auf den Balkon geht; nur wenn Henrik weg ist, raucht sie überall. Das ist dann aber keine Werbung.
    Es klopft leicht und locker, als wäre es eigentlich gar kein Klopfen, sondern als würde einfach jemand in Gedanken verloren ein wenig auf dem Holz herumtrommeln, während er an der Wohnungstür vorbeigeht.
    Sie sieht, dass ihre Mutter, über das Spülbecken gebeugt, noch eine Zigarette anzündet.
    Sie scheint zu zögern.
    Dann wird das Klopfen zu lautem Pochen.
    Poch, poch, poch.
    Und es kann keinen Zweifel mehr daran geben, dass jemand vor der Tür steht, dass jemand hereinwill. Jemand, der es eilig hat.
    »Ich komme«, ruft ihre Mutter und geht langsam mit der Zigarette in der Hand auf die Tür zu. Als hätte sie alle Zeit der Welt. Und Tilde weiß, dass das stimmt, denn Henrik muss warten lernen. Nicht alles kann auf einmal passieren, und auch nicht nach seinen Bedingungen. Das hat ihre Mutter zu ihm gesagt.
    Sie sucht sich einen hellgelben Stift heraus, der bestimmt schön für die Sonne ist, und fängt an, mit fegenden runden Bewegungen einen Kreis zu zeichnen. Das Papier zerknittert ein bisschen, und als sie es mit der anderen Hand festhält, reißt die rechte obere Ecke ein wenig ein. Ein Riss in der perfekten Welt, die sie hier so vorsichtig zum Entstehen bringt.
    Sie zögert: neu anfangen oder weitermachen?
    Poch, poch, poch.
    Henrik scheint schlechter gelaunt als sonst. Dann ist ein Klirren zu hören, als die Sicherheitskette aus dem Schloss gleitet und die Mutter die Tür aufmacht.
    Sie sucht zwischen den Stiften, die in der Dunkelheit unter dem Küchentisch wie graubraune Stöckchen aussehen. Als säße sie im Wald unter einer Tanne und spielte mit richtigen Stöckchen. Sie fragt sich, was das wohl für ein Gefühl wäre, sie war fast noch nie im Wald. Nur unten auf dem Spielplatz in der Ortsmitte, und da gibt es keine Tannen, nur stachelige Sträucher mit winzig kleinen orangeroten Beeren, von denen die anderen Kinder sagen, dass sie giftig sind.
    Dann findet sie den grauen Stift. Denkt, dass es eine große düstere Wolke geben soll. Eine dicke, mit Regen und Hagel im Bauch, die den Erwachsenen Angst macht.
    In
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