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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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der Nachtisch, Angel Cake mit Schlagsahne. Ich wollte so gern ein Stück haben, und Miss Bombay bot mir wiederholt eins an, doch ich schüttelte nur den Kopf. Dann hörte ich, wie Miss Bombay einem der älteren Mädchen zuflüsterte: »Das arme Kind steht noch unter Schock.« Nichts hätte schlimmer sein können als diese Worte. Ich wünschte, ich hätte Nachtisch genommen und mir den Mund mit dem weichen, süßen Kuchen vollgestopft wie die anderen Mädchen am Tisch, die alle gleichzeitig zu kauen aufhörten und mich erneut anstarrten. Diesmal nicht verärgert, sondern mit abscheulich mitleidsvollen Blicken.
    Jetzt gehöre ich selbst zu diesen älteren Mädchen. Ich beeile mich mit dem Essen und gehe danach eine rauchen. Ich habe viele Freundinnen, und niemand starrt mich an. Ich nehme mir immer ein großes Stück Kuchen.
17. September
    Die Neue ist irgendwie seltsam. Oder völlig neben der Spur.
    Als ich nach dem Sport durch den Übergang kam, stand sie dort an die Wand gelehnt und schaute aus dem Fenster. Ich eilte an ihr vorbei, doch dann fiel mir ein, wie furchtbar man sich als Neue fühlt, und drehte mich um.
    »Hast du dich verlaufen?«, fragte ich.
    Ernessa wandte sich vom Fenster ab. »Nein. Hier bin ich besonders gern.«
    »Hier im Übergang?«
    Der ›Übergang‹ ist einfach nur ein Flur, der vom Schulgebäude zum Naturwissenschaftsgebäude und der Residenz führt. Es gibt keinen Grund, dort herumzuhängen, außer man hat es gerne kalt, dämmrig und eng. Mit den Bleiglasfenstern sieht er mehr nach Kreuzgang als nach Schule aus. Das Glas ist dick und verschwommen, und die Bäume auf dem mittleren Sportplatz sehen aus, als verschmölzen sie mit dem Himmel. Nur bleiches Licht fällt herein, Unterwasserlicht. Wenn ich durch den Übergang muss, renne ich beinah.
    »Ich sehe gern aus diesen Fenstern«, sagte Ernessa. »Die Welt ist in lauter kleine Splitter zerbrochen.«
    »Gehst du wieder in dein Zimmer?«, fragte ich rein aus Höflichkeit.
    »Irgendwann schon.«
    »Dann bis später.«
    Sie wandte sich eifrig zum Fenster, als könnte sie da draußen tatsächlich etwas sehen. Ich ging.
    Ich muss Lucy fragen, ob sie je mit ihr gesprochen hat. Ich glaube, sie sind im selben Englischkurs. Ich weiß nicht, weshalb Lucy die romantischen Dichter lesen will. Vermutlich, weil Gedichte kürzer als Romane sind. Ich habe keinen Kurs mit Ernessa, und mit Lucy auch nur Chemie. Ich habe kaum Freundinnen in meinen Kursen. Meist hocke ich mit Tagesschülerinnen zusammen. Es mag ja nette, intelligente Tagesschülerinnen geben, nur kenne ich keine.
Nach dem Abendessen
    Ernessa ist in Lucys Englischkurs, und Lucy redete unablässig davon, wie »brillant« Ernessa sei und dass sie im Unterricht immer so interessante Dinge zu sagen habe. Ich weiß nicht, ob Lucy Brillanz beurteilen kann. Ich verlor die Geduld. Sie konnte einfach nicht aufhören, über Ernessa zu reden.
    »Wie willst du nach einer Woche Schule wissen, wie intelligent jemand ist?«, fragte ich Lucy.
    »Ich weiß, dass sie klüger ist als ich. Sie redet wie aus dem Fremdwörterbuch, ›Das ist definitiv korrekt‹ oder ›Alle Kriterien sind erfüllt‹.«
    Das Gespräch hat mich richtig geärgert. Jetzt kann ich mich nicht auf Mathe konzentrieren.
19. September
    Lucy ist übers Wochenende nach Hause gefahren, ich habe eigentlich gar nichts zu tun. Ich mag keine Hausaufgaben machen oder Klavier spielen, nicht einmal lesen. Warum fühle ich mich ohne sie so verloren, obwohl ich viele andere Freundinnen habe? Ich brauche nicht einmal mit ihr zusammen zu sein; es genügt, wenn ich weiß, dass sie in ihrem Zimmer ist, dass nur die beiden Türen uns trennen. Ich kann jederzeit rübergehen, mich aufs Bett fallen lassen und sagen: »Komm, lass uns was machen.« Lucy holt mich von meinen Büchern und Gedanken weg und bringt mich dazu, zu lachen und Fastfood zu essen und albern zu sein wie die anderen Mädchen. Hoffentlich fährt sie jetzt nicht jedes Wochenende nach Hause. Sie wohnt nur zwei Stunden von hier entfernt, und es macht ihrer Mutter nichts aus, sie abzuholen. Meine Mutter will mich am Wochenende nicht zu Hause haben. Sie sagt, sie vermisse mich, wenn ich weg sei, habe sich aber ans Alleinsein gewöhnt.
    Alle sitzen im Fernsehzimmer am Ende des Flurs. Bis auf Ernessa, die wohl im Zimmer gegenüber ist. Sie ist wie ich, nur schlimmer. Ich glaube, sie möchte gar keine Freundinnen haben. Sie ist immer in ihrem Zimmer und hat die Tür zu. Ihre ist die einzige
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