Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
Vom Netzwerk:
Bobbie, so ein blöder Name. Eigentlich heißt sie Miss Roberts. Wie erbärmlich, wenn eine alte Frau mit weißen Haaren und schlaffer Haut einen Spitznamen hat. Sie trägt immer einen karierten Wollrock mit passendem Pullover, eine weiße Bluse und marineblaue Kniestrümpfe, die ihr in Falten um die Knöchel hängen. Wie eine Uniform. Ich würde niemals freiwillig eine Uniform tragen. Sofia liebt die Uniform aus unerfindlichen Gründen, aber sie liebt ja auch die Schule.
    Von dieser alten Kuh lasse ich mir nicht den Herbst verderben. Ich mag Hockey, das Gerenne auf dem Spielfeld, außer Atem, mit stechenden Lungen und dem Geruch von trockenem Laub im Haar. Das Licht verblasst, und die Spielerinnen auf dem Feld können einander kaum noch erkennen. Sie sinken wie Geister ins Dunkel. Der weiße Ball, die einzige Verbindung zwischen ihnen, schimmert im Gras. Der Holzschläger kracht auf den harten Ball, Rufe hallen durch die leere Luft, dann das rüttelnde, betäubende Gefühl, wenn ich den Ball über das lange Feld schlage und alle hinterherlaufen und in der Dämmerung verschwinden. Es ist schön. Sogar in der B-Mannschaft.
    Ich muss noch arbeiten, bevor ich runtergehe. Ich sitze an Miss Davenports Tisch. Sie lässt uns schnell essen, Kaffee trinken und auf eine Zigarette in den Aufenthaltsraum gehen, bevor die Arbeitsstunde beginnt. Das macht sie, weil sie selbst nicht viel isst. Sie achtet auf ihr Gewicht. Wenn man bei Miss Bombay am Tisch sitzt, lässt sie einen erst gehen, wenn man alles aufgegessen hat. Es dauert ewig.
Nach dem Abendessen
    Die arme Lucy hängt an Miss Bombays Tisch fest. Und muss auch noch abräumen. Das heißt, uns bleibt nach dem Abendessen keine Zeit im Aufenthaltsraum. Seit ich in der neunten Klasse auf die Schule kam, habe ich nicht mehr an Miss Bombays Tisch gesessen. Es war schlimm genug, dass ich mitten im Schuljahr kam, und dann setzten sie mich auch noch an ihren Tisch. Ich musste ins Internat, weil meine Mutter mich nicht um sich haben konnte. Sie wollte sich allein in ihrem Schmerz suhlen. Abends saßen wir beide schweigend beim Essen. Man hörte uns nur kauen und schlucken. Wenn wir sprechen mussten, um nach dem Salz zu fragen oder so, flüsterten wir und mieden den Anblick von Vaters leerem Stuhl. Jeden Abend dachte ich, ich könnte kein weiteres Essen mit ihr ertragen. Dann kam ich auf die Schule, und es wurde noch schlimmer. Ich fürchtete mich vor allem: den anderen Schülerinnen, der Fluraufsicht, den Sportlehrerinnen, Miss Rood, all den Regeln und Klingelzeichen. Ich fand mich nicht einmal im Gebäude zurecht. Eines Abends lief ich vor den anderen Mädchen davon, die sich oben an der Treppe versammelt hatten, um gemeinsam zum Abendessen zu gehen, und landete an der Hintertreppe bei den Musikräumen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich stand im dunklen Flur und weinte. Keiner hörte mich. Ich hätte tot sein können. Als wir uns bei Tisch zum Dankgebet erhoben, musste ich dauernd Miss Bombay anschauen. Ihre Beine waren so dick und die Knöchel so geschwollen, dass ihre Unterschenkel direkt in den Schuhen zu stecken schienen wie dicke Holzpflöcke. Ihre Knöchel und Unterschenkel waren bandagiert. Sie senkte sich behutsam auf ihren Stuhl, wobei sie die Tischkante umklammerte, und seufzte erleichtert, als sie saß. Ich war zu versteinert, um zu essen. Der Raum war erfüllt von Stimmen, die im Laufe des Essens lauter wurden, und dem Klirren des Bestecks. Überall um mich herum wurde sich unterhalten. Mädchen sprangen auf und holten Essen von einem Wagen, liefen um die Tische, räumten die Teller ab und trugen sie zum Wagen. Ich schaute hoch. Mein Teller war noch fast voll, ich hatte einen Bissen Lammfleisch im Mund und merkte, dass es am Tisch still geworden war und alle mich anstarrten. Ich konnte meinen Kiefer nicht bewegen, nicht kauen.
    »Keine Eile, meine Liebe«, sagte Miss Bombay. »Iss ruhig auf.«
    »Schnell«, flüsterte das Mädchen neben mir. »Wir wollen eine rauchen.«
    »Fertig«, piepste ich.
    »Na los, iss auf«, beharrte Miss Bombay.
    »Nein, ich bin fertig«, sagte ich. Nur die Angst vor den anderen Mädchen ließ mich lauter sprechen.
    Miss Bombay saß da und sagte kein Wort. Ich wusste, ich könnte nicht an der Schule bleiben, falls sie mich zwang, unter den Blicken aller anderen aufzuessen, jeden Bissen hinunterzuwürgen. Als sie die Mädchen schließlich abräumen ließ, war ich schweißnass, und meine Beine unter dem Tisch zitterten. Am schlimmsten war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher