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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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Ecke jeder Seite eine Zahl. Es sind 155 Blätter, die ich beidseitig beschreiben werde. Dreihundertzehn Seiten, das sollte reichen.
    Ich habe lange gebraucht, um mich an die Schule zu gewöhnen, um mich nicht ständig beobachtet und bemitleidet zu fühlen. Sie haben es gehasst, mich zu bemitleiden. Ich glaube, dieses Jahr werde ich glücklich sein können, weil Lucy und ich jetzt zwei Zimmer zusammen haben. Davon habe ich geträumt. Nächstes Jahr muss ich ans College denken. Dann muss ich wieder von vorn beginnen.
    Ich kann unser Glück gar nicht fassen. Ich hatte bei der Auslosung eine niedrige Zahl gezogen, und wir bekamen die erste Wahl. Mein Zimmer ist größer, aber Lucys hat einen Kamin, und zwischen den beiden Räumen liegt unser eigenes Bad. Es ist so privat, und so viel Platz. Wir können jederzeit zur anderen ins Zimmer gehen, ohne dass Mrs. Halton es merkt. Wir müssen nur darauf achten, dass wir leise sind und ordentlich und nicht in den Verdacht geraten, irgendwelche Probleme zu machen. Lucy hält niemand für eine Unruhestifterin. Sie ist einfach zu nett. Letztes Jahr tanzte Mrs. Dunlap dauernd um uns herum und platzte während der Ruhezeit herein, um zu sehen, ob wir auch allein wären. Das war furchtbar. Dieses Jahr haben wir alles viel besser eingerichtet.
    Ich will, dass dieses Schuljahr nie zu Ende geht.
    Ich werde in meinem Zimmer bleiben, bis Lucy kommt. Ich will niemanden sehen, nur sie.
    Die Tür.
     
    Es war nicht Lucy. Es war die Neue von gegenüber. Es ist seltsam, dass wir in der elften Klasse eine Neue bekommen. Und sie hat es geschafft, ein großes Zimmer mit Bad und Kamin für sich allein zu kriegen. In diesem Jahr wohnen alle außer Sofia auf einem Flur. Sofia wollte ein Einzelzimmer, hatte aber eine schlechte Nummer gezogen. Sie muss sich mit einem kleinen Raum, der nach vorn hinausgeht, begnügen, doch immerhin liegt er gleich um die Ecke. Nur die Zimmer im ersten und zweiten Stock haben Kamine. Meistens bekommen die Neuen die winzigen Dienstbotenzimmer im dritten Stock. Das ist alles, was übrig bleibt, nachdem alle gewählt haben. Sie hocken da oben mit den Acht- und Neuntklässlerinnen und mit Mac. Diesen Spitznamen hat Charley erfunden. Mrs. McCallum sieht aus wie eine alte Bulldogge. Vermutlich ist die Neue reich, und Miss Rood will ihre Eltern beeindrucken.
    Ich überlege oft, wie es war, als die Residenz noch ein Hotel war. Reiche Gäste kamen oft zur »Ruhekur« her, was immer das gewesen sein mag. Sie ritten auf Ponys über die Sportplätze, spielten Krocket, tranken ihren Nachmittagstee auf der Veranda und tanzten nach dem Abendessen im Schulsaal.
    Irgendwie hat sich seither nichts verändert, nur ist das Haus jetzt voller Mädchen.
    Als ich zum ersten Mal mit meiner Mutter durch die hohen Eisentore der Brangwyn School fuhr und die Residenz sah, war mir, als wäre ich in einem Traum aufgewacht. Nein, nicht in einem Traum. Träume sind nicht real. Ich war in eine völlig andere Zeit und an einen anderen Ort geraten, mit geschwungenen roten Dächern und Giebeln, Steinbögen und hohen Ziegelschornsteinen, geschmückt mit Ornamenten aus grünem Kupfer wie die Waffen auf einem Schlachtfeld, Speere, Lanzen und Hellebarden. Das war keine Schule, sondern eine Burg. Es war Winter, und die Sportplätze und die lange, geschwungene Auffahrt waren schneebedeckt. Der Schnee ließ die Plätze ungeheuer groß aussehen, unendlich.
    Alles an der Schule – die Uniformen, die förmlichen Mahlzeiten, die Glocke, die Regeln – war wie die roten Dächer und die Kupferpiken: kunstvoll und verwirrend. Ich wusste nicht, wie ich mich daran gewöhnen sollte. Ich dachte, ich würde wieder gehen, bevor das geschah. Dann sagte eines Tages jemand: »Wir treffen uns in der Pause auf dem Treppenabsatz«, und obwohl es überall in der Schule Treppen und Treppenabsätze gibt, wusste ich genau, welchen sie meinte, nämlich den hinter der Bibliothek. Ich brauchte sie nicht panisch und leer anzustarren.
    Die Neue heißt Ernessa Bloch. Sie ist ganz hübsch, hat langes, dunkles, welliges Haar, blasse Haut, tiefrote Lippen und schwarze Augen. Nur ihre Nase ist zu groß und am Ende nach unten gekrümmt. Hübsch klingt eigentlich zu mädchenhaft für sie. Vielleicht liegt das an ihrer Art: Sie ist sehr höflich, aber überhaupt nicht schüchtern. Sie spricht akzentfrei, hat aber etwas Ausländisches. Sie war nur einen Moment da. Sie wollte wissen, wann wir morgens aufstehen müssen und ob das Frühstück Pflicht
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