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Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)

Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
Autoren: Michael Scott
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KAPITEL EINS
    D er kleine Kristallspiegel war uralt.
    Er war älter als die Menschheit, als das Ältere Geschlecht, die Archone und selbst die Erstgewesenen, die vor ihnen allen da waren. Der Spiegel gehörte einst einem Erdenfürsten und wurde an die Oberfläche gespült, als die Insel Danu Talis vom urweltlichen Meeresboden gerissen wurde.
    Jahrtausendelang hing er an der Wand in einem kleinen Zimmer im Sonnenpalast von Danu Talis. Generationen von Erstgewesenen und Älteren hatten gerätselt, was es mit dem kleinen Rechteck aus Kristall in dem einfachen schwarzen Rahmen wohl auf sich hatte. Der Rahmen war weder aus Holz noch aus Metall oder Stein. Obwohl das Kristall alle Eigenschaften eines Spiegels aufwies, handelte es sich doch um keinen gewöhnlichen Spiegel, denn es waren nur Schatten darin zu erkennen. Wer genau hineingeschaut hatte, beteuerte oftmals, eine Spur der eigenen Schädeldecke oder eine Andeutung von Knochen unter der Haut gesehen zu haben. Gelegentlich – wenn auch eher selten – wurde behauptet, es seien Ausschnitte entfernter Landschaften darin zu erkennen, polare Eiskappen, Wüstenstriche oder dampfende Dschungel.
    Zu bestimmten Zeiten im Jahr – bei der Herbst- und Frühlings-Tagundnachtgleiche und während einer Sonnen- oder Mondfinsternis – zitterte das Glas und zeigte Szenen von Zeiten und Orten jenseits allen Begreifens, exotische Welten aus Metall und Chitin, Orte, über denen keine Sterne am Himmel standen, nur eine unbewegliche schwarze Sonne. Generationen von Gelehrten versuchten zeitlebens hinter die Bedeutung dieser Szenen zu kommen, doch selbst Abraham der Weise konnte ihnen ihr Geheimnis nicht entlocken.
    Eines Tages dann, als Quetzalcoatl, ein Angehöriger des Älteren Geschlechts, den Spiegel gerade rücken wollte, stieß er mit der Hand an den Rahmen. Er spürte einen Stich, und als er die Hand überrascht zurückzog, sah er, dass er sich verletzt hatte. Ein Tropfen Blut spritzte auf das Kristallglas und plötzlich wurde es klar. Die Oberfläche kräuselte sich unter dem Blut, das in einer dünnen, knisternden Wellenlinie darüberlief. In diesem Moment sah Quetzalcoatl Unbegreifliches:
    … die Insel Danu Talis im Herzen eines riesigen Reiches, das sich über die gesamte Erdkugel erstreckt …
    … die Insel Danu Talis brennend und zerstört, entzweigerissen von Erdbeben, die Prachtstraßen und all die herrlichen Gebäude vom Meer verschluckt …
    … die Insel Danu Talis, gerade noch unter einer dünnen Eisschicht zu erkennen. Riesige Wale mit spitzen Schnauzen lassen sich über der begrabenen Stadt treiben …
    … die Stadt Danu Talis, strahlend und golden inmitten einer endlosen Wüste …
    Der Ältere stahl den Spiegel an diesem Tag und brachte ihn nie zurück.
    Jetzt breitete Quetzalcoatl, schlank und mit weißem Bart, ein blaues Samttuch über einen einfachen Holztisch. Er strich den Stoff glatt und entfernte mit den schwarzen Fingernägeln Flusen und Staubkörnchen. Dann legte er den rechteckigen Spiegel mit dem schwarzen Rand mitten auf den Tisch und wischte ihn mit der Manschette seines weißen Leinenhemdes vorsichtig ab. Der Spiegel reflektierte nicht das Gesicht des Älteren mit der Hakennase; die polierte Oberfläche kräuselte sich und zeigte eine graue, rauchige Landschaft.
    Quetzalcoatl beugte sich darüber, zog eine Nadel aus seinem Hemdärmel und stach sich damit in die fleischige Daumenkuppe.
    »Ha! Mir juckt der Daumen schon …«, murmelte er in der uralten Sprache der Tolteken. Langsam bildete sich ein rubinroter Blutstropfen auf seiner glatten Haut. »… sicher naht ein Sündensohn.«
    Er hielt die Hand über den Spiegel und ließ den Blutstropfen darauffallen. Sofort zitterte das Glas und schimmerte ölig in allen Farben des Regenbogens. Roter Rauch stieg auf, dann ordneten sich die Farben zu Bildern.
    Jahrtausendelanges Experimentieren und Unmengen von Blut – wobei das Wenigste von ihm stammte – hatten den Älteren in die Lage versetzt, sich die Bilder zunutze zu machen. Er hatte das Glas mit so viel Blut versorgt, dass er inzwischen überzeugt war, der Spiegel sei ein fühlendes, lebendiges Wesen.
    Quetzalcoatl starrte auf das Glas und murmelte: »Bring mich nach San Francisco.«
    Das Bild im Spiegel verschwamm, dann floss weißes und graues Licht darüber und plötzlich schwebte Quetzalcoatl hoch über der Stadt und blickte hinunter auf die Bucht.
    »Warum brennt es da unten nicht?«, überlegte er laut. »Warum sind keine Ungeheuer auf den
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