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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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1
    Florenz, 15. Dezember 2011
    »Er kam im Sommer. Völlig überraschend. Aber er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.«
    »Inwiefern?«
    Christine atmet tief durch und überlegt. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Das macht nichts. Ich habe Zeit. Und nur deswegen bin ich nach Florenz gekommen. Um Ihre Geschichte zu hören.«
    »Also gut.«
    Dr. Manfred Corsini ist ein vom Gericht bestellter psychiatrischer Gutachter. Er lebt und arbeitet normalerweise in Bozen, hat einen italienischen Vater und eine deutsche Mutter und ist zweisprachig aufgewachsen. Christine kann sich zwar auf Italienisch ganz gut verständigen, aber für die anstehenden schwierigen Gespräche und für die Gerichtsverhandlung reichen ihre Sprachkenntnisse nicht aus.
    »Erzählen Sie mir von Ihren Kindern, Ihrem Mann, Ihrem Leben in Deutschland und in Italien.«
    Christine braucht lange, bis sie anfängt zu reden. Dann sagt sie leise: »Ich hatte die schönsten Kinder der Welt. Raffael und Svenja. Glauben Sie mir, sie waren einfach perfekt. Wir wohnten damals oben im Norden, in Nordfriesland, gleich hinterm Deich.« Sie lächelt. »Das war toll für die Kinder. Sie konnten endlos draußen toben und Fahrrad fahren. Wir hatten ein Haus in einem kleinen Ort, in Tetenbüll, das war wie Bullerbü. Bis zu diesem schrecklichen Tag hab ich da verdammt gern gewohnt. Kindergarten und Grundschule waren direkt im Ort, meine Mutter wohnte auch in der Nähe und passte oft auf die Zwillinge auf. Ich arbeitete als Lehrerin ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt in Tönning, und Karl war Dozent an der Hamburger Uni. Da musste er zwar ziemlich viel hin- und herfahren, aber das hat ihn nicht gestört. Es war alles prima. Wirklich. Heute ist mir das klar, damals nicht so. Wie glücklich man war, merkt man immer erst hinterher.
    Und Zwillinge sind ja ein Geschenk. Die beiden waren den ganzen Tag zusammen, haben miteinander gespielt und sogar eng umschlungen geschlafen. Einer konnte ohne den andern nicht sein. Es war unglaublich. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal rumquengelten oder sich langweilten … nein, nie. Es war ja nie einer allein. Das war eine so starke Symbiose, das kann man sich gar nicht vorstellen.
    Aber ich fand es großartig. Es tat einfach irrsinnig gut zu sehen, dass meine beiden Kleinen rund um die Uhr richtig vergnügt und zufrieden waren.«
    Sie schluckt und braucht eine Pause von einigen Sekunden, dann redet sie weiter.
    »Passiert ist es am 24. April 1992.«
    »Wie alt waren die Zwillinge da?«
    »Sieben. Sie gingen in die erste Klasse.«
    »Erzählen Sie mir möglichst genau von diesem Tag. Versuchen Sie sich zu erinnern. So detailliert wie möglich.«
    »Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her, aber der Tag ist mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Was glauben Sie, wie oft ich ihn Minute für Minute durchgegangen bin, ob ich irgendetwas hätte anders machen können! Aber mir ist nichts eingefallen.«
    »So müssen Sie sich wenigstens keine Vorwürfe machen.«
    Christine funkelt Dr. Corsini wütend an. »Vielleicht. Aber diese Machtlosigkeit halt ich nicht aus. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn irgendjemand Schuld hätte. Dann könnte ich wenigstens hassen und müsste nicht das Schicksal verfluchen, dem es wahrscheinlich scheißegal ist, ob es verflucht wird oder nicht.«
    »Wahrscheinlich.« Dr. Corsini bleibt ganz ruhig. »Was passierte denn nun an diesem Tag im April?«
    »Es war ein Freitag. Und es war schon ziemlich warm. Das weiß ich noch. Für norddeutsche Verhältnisse eigentlich ungewöhnlich warm. Und wie immer waren die Zwillinge bereits in aller Herrgottsfrühe wach.
    Seit sechs Uhr morgens hockten sie vor unserem Bett und hypnotisierten aus zehn Zentimetern Entfernung unsere Gesichter. Dabei atmeten sie wie hechelnde Hunde und warteten auf die kleinste Regung, ein Wimpernzucken, um dann in unser Bett zu springen.
    An diesem Morgen hatte ich wohl irgendwie ein Viertelauge geöffnet – jedenfalls stürzten sie sich sofort auf uns. Karl spielte den Ohnmächtigen. Und es ist schwer, sich nicht zu rühren, wenn die Kleinen an deiner Unterlippe herumzuppeln, am Ohr ziehen und die Füße kitzeln. Aber er war da stoisch und hat erst kapituliert, als sie ihm ihre kleinen Finger in die Nase steckten.
    Wir haben eine Viertelstunde getobt, dann sprang Karl auf und ging ins Bad. Ich bin noch eine Weile liegen geblieben und hab den beiden die Rücken gekrault. Sie schnurrten wie kleine Katzen. Und ich schnupperte an
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