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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey
Autoren: Kain und Abel
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Erstes Buch
1
18. April 1906 Slonim, Polen
    Sie hörte erst zu schreien auf, als sie starb. In diesem Augenblick begann er zu schreien.
    Der Junge, der im Wald Kaninchen jagte, war sich nicht ganz sicher, ob es der letzte Schrei der Frau oder der erste des Kindes war, der ihn aufmerksam machte. Eine Gefahr witternd, drehte er sich abrupt um, und seine Augen suchten nach dem Tier, das da offenbar verletzt worden war. Noch nie hatte er ein Tier so schreien gehört. Vorsichtig schlich er in die Richtung, aus der die Klagelaute kamen; der Schrei war jetzt zu einem Wimmern geworden, aber auch das klang nicht nach einem ihm bekannten Tier. Hoffentlich, dachte der Junge, ist es so klein, daß ich es töten kann; es wäre einmal etwas anderes als das ewige Kaninchen zum Abendbrot.
    Der seltsame Lärm kam vom Fluß, und so schlich der Junge in diese Richtung. Er lief von einem Baum zum nächsten und preßte die Schulterblätter gegen die Baumrinde; man konnte sie angreifen, und das war beruhigend. Bleib nie ohne Deckung, hatte ihn sein Vater gelehrt. Als er den Waldrand erreichte, konnte er das ganze Tal bis zum Fluß überschauen, aber auch jetzt dauerte es noch eine Weile, bis ihm klar wurde, daß der merkwürdige Schrei nicht von einem Tier ausgestoßen worden war. Er kroch weiter, doch jetzt war er ungeschützt auf freiem Feld. Plötzlich sah er die Frau - das Kleid über die Hüften gezogen, die bloßen Beine auseinandergespreizt. So hatte er noch nie eine Frau gesehen. Rasch lief er zu ihr hin, starrte auf ihren Bauch hinab und hatte Angst, sie anzurühren. Zwischen den Beinen der Frau lag der Körper eines kleinen, feuchten rosa Tieres, mit etwas angebunden, das wie ein Strick aussah. Der junge Jäger ließ seine frisch gehäuteten Kaninchen fallen und kniete neben dem kleinen Lebewesen nieder.
    Eine ganze Weile schaute er es fassungslos an, dann blickte er auf die Frau; er bereute es sofort. Sie war schon blau vor Kälte; das erschöpfte Gesicht der Dreiundzwanzigjährigen schien dem Jungen bereits alt. Niemand mußte ihm sagen, daß sie tot war. Er hob den schlüpfrigen kleinen Körper auf; hätte ihn jemand gefragt, warum - und niemand fragte ihn je danach -, er hätte geantwortet, daß die winzigen Fingernägel, die sich in das verdrückte Gesichtchen preßten, ihn dazu bewogen hatten. Jetzt merkte er, daß Mutter und Kind, mit jener schleimigen Schnur verbunden, nicht zu trennen waren.
    Vor ein paar Tagen hatte er die Geburt eines Lammes mitangesehen und er versuchte sich zu erinnern… Ja, das war es, was der Schäfer gemacht hatte, aber konnte er es auch bei einem Kind tun? Das Wimmern hatte aufgehört, und der Junge wußte, daß er handeln mußte. Er zog das Messer, mit dem er die Kaninchen abgehäutet hatte, aus der Scheide, wischte es an seinem Ärmel ab und zögerte nur einen Augenblick, bevor er die Schnur knapp am Körper des Kindes durchtrennte. Aus den abgeschnittenen Enden floß Blut. Was hatte der Schäfer dann mit dem neugeborenen Lamm getan? Er hatte einen Knoten gemacht, um das Fließen des Blutes zu unterbinden. Natürlich, natürlich; der Junge riß ein paar Grashalme aus und knüpfte hastig einen Knoten in die Schnur. Dann nahm er das Kind in die Arme. Langsam stand er auf und ließ drei tote Kaninchen und die tote Frau zurück, die dieses Kind geboren hatte. Bevor er ihr endgültig den Rücken drehte, zog er ihr das Kleid über die Knie und schob die Beine zusammen. Er hatte das Gefühl, daß er das tun mußte.
    »Großer Gott«, sagte er laut - etwas, das er immer sagte, wenn er etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes getan hatte. Noch wußte er nicht genau, wie diese Tat einzuordnen war.
    Der junge Jäger lief zu dem kleinen Haus, in dem seine Mutter das Abendbrot zubereitete und auf die Kaninchen wartete; alles andere würde schon fertig sein. Sicher fragte sie sich, wie viele er heute gefangen hatte; für eine achtköpfige Familie brauchte sie mindestens drei Kaninchen. Manchmal brachte er eine Ente, eine Gans oder sogar einen Fasan, der sich von dem Gut des Barons, auf dem sein Vater arbeitete, in den Wald verirrt hatte. Heute abend hatte er ein anderes Tier gefangen, und als der junge Jäger das Haus erreichte, getraute er sich nicht, seine Beute auch nur mit einer Hand loszulassen. Mit dem bloßen Fuß stieß er an die Tür, bis seine Mutter ihm öffnete. Schweigend streckte er ihr seine Gabe entgegen. Sie nahm ihm das kleine Geschöpf nicht gleich ab, sondern starrte es, eine Hand
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