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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey
Autoren: Kain und Abel
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die sie nie bereist hatte.
    Prüfend schaute sie in den Spiegel; keine verräterischen Linien im Gesicht; die Leute würden kaum für möglich halten, daß sie die Mutter eines kräftigen Knaben war. Gott sei Dank, daß es ein Junge ist, dachte Anne.
    Sie nahm ein leichtes Mittagessen zu sich und bereitete sich auf die Besucher vor, die, von ihrer Privatsekretärin ausgesucht, am Nachmittag erscheinen würden. Jene, die während der ersten Tage kommen durften, mußten entweder Familienmitglieder oder Mitglieder der besten Familien sein; den anderen würde man sagen, daß sie noch nicht bereit sei, zu empfangen. Doch da Boston diejenige Stadt Amerikas war, in der noch jeder seinen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie sehr genau kannte, würde sich kaum ein unerwarteter Besuch einfinden.
    In dem Zimmer, in dem Anne allein lag, wäre noch leicht Platz für fünf weitere Betten gewesen, sah man von der Unmenge von Blumen ab. Ein zufällig Eintretender hätte sich inmitten einer Gartenausstellung geglaubt, wäre da nicht die junge Mutter aufrecht im Bett gesessen. Anne knipste das elektrische Licht an, das noch neu für sie war; Richard und sie hatten gewartet, bis die Cabots es installiert hatten; von diesem Moment an wußte man in ganz Boston, daß der elektrische Strom gesellschaftsfähig war.
    Die erste Besucherin war Annes Schwiegermutter, Mrs. Thomas Lowell Kane, das Oberhaupt der Familie, seit ihr Mann vor einem Jahr gestorben war. Die elegante Sechzigerin hatte die Kunst, so in ein Zimmer zu rauschen, daß sie selbst davon tief befriedigt, alle anderen aber verwirrt waren, perfekt gelernt. Sie trug ein langes ChemiseKleid, das die Knöcheln verhüllte; der einzige Mann, der jemals ihre Knöcheln gesehen hatte, war jetzt tot. Sie war immer schlank gewesen. Nach ihrer Meinung deutete Fett auf schlechte Ernährung und auf einen noch schlechteren Stammbaum hin. Heute war sie die älteste lebende Lowell und auch die älteste Kane. Daher erwartete sie
- und man erwartete es von ihr -, daß sie die erste war, die das Neugeborene zu Gesicht bekam. War es nicht sie gewesen, die Anne und Richard zusammengebracht hatte? Liebe erschien Mrs. Kane nicht besonders wichtig. Reichtum, Ansehen und gesellschaftliche Stellung, das zählte. Liebe war schön und gut, aber zumeist nicht von Dauer; die erstgenannten Dinge waren es. Sie küßte ihre Schwiegertochter beifällig auf die Stirn. Anne berührte einen Knopf an der Wand, und ein leises Summen ertönte. Das Geräusch überraschte Mrs. Kane; sie konnte nicht glauben, daß sich die Elektrizität tatsächlich durchsetzte. Die Schwester erschien mit dem Erben im Arm. Mrs. Kane schaute ihn prüfend an, schnaubte zufrieden und winkte ihn fort.
    »Gut gemacht, Anne«, sagte die alte Dame, als hätte ihre Schwiegertochter einen Preis in einem bedeutenden sportlichen Wettbewerb gewonnen. »Wir sind alle stolz auf dich.«
    Einige Minuten später erschien Annes Mutter, Mrs. Edward Cabot. Sie war, wie Mrs. Kane, vor kurzem Witwe geworden, und ihre Erscheinung war jener von Mrs. Kane so ähnlich, daß Leute, die die beiden von weitem sahen, sie gelegentlich verwechselten. Aber man mußte ihr zugute halten, daß sie sich wesentlich länger mit ihrem neuen Enkel und ihrer Tochter beschäftigte. Dann wurden die Blumen inspiziert.
    »Wie nett, daß die Jacksons daran gedacht haben«, murmelte Mrs. Cabot.
    Mrs. Kane wandte sich sofort dem Wesentlichsten zu; nach einem flüchtigen Blick auf die Blumenpracht studierte sie die Karten der Absender. Leise murmelte sie die beruhigenden Namen: Adams, Lawrence, Lodge, Higginson. Keine der Großmütter kommentierte die ihnen unbekannten Namen; sie waren beide über das Alter hinaus, etwas Neues oder jemanden Neuen kennenlernen zu wollen. Befriedigt verließen sie gemeinsam das Zimmer: ein Erbe war geboren und schien, soweit man das beurteilen konnte, in Ordnung zu sein. Sie waren beide der Meinung, daß sie ihre letzte familiäre Pflicht erfolgreich erledigt hatten und von nun an Zuschauer sein durften. Sie irrten sich beide.
    Anne und Richards engere Freunde kamen am Nachmittag mit Geschenken und guten Wünschen - erstere in Gold und Silber, letztere in dem hochgestochenen Tonfall der exklusiven Gesellschaft.
    Als ihr Mann nach Bankschluß erschien, war Anne erschöpft. Richard hatte zum erstenmal im Leben zum Lunch Champagner getrunken - der alte Amos Kerbes hatte darauf bestanden, und da der ganzer Somerset Club zuschaute, konnte Richard nicht gut
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