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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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Düfte waren dick und Schwindel erregend. Die Balsamierflüssigkeit roch widerlich nach überreifem Obst. Ich beugte mich lange über sie, und niemand wagte, mich daran zu hindern. Ich hatte sie gefunden. Ich hatte ihren letzten Atemzug gespürt. Ich hatte sie ganz für mich gehabt. Ich nahm ein winziges Silbermesser und den Streifen Schwarz-Weiß-Fotos von Lucy und mir aus der Tasche. Ich schob das Messer zwischen ihre steifen Hände. Die Fotos unter die Falten ihres Kleides. Es waren vier Bilder, und auf dem letzten lachten wir wie wild, wollten uns gegenseitig aus dem winzigen Rahmen schubsen. Wir hatten uns die Arme um die Schultern gelegt.
    Es wird nicht verhindern, dass sie wird, was sie wird, doch das Messer kann sie vielleicht beschützen, und die Fotos werden sie an dem einsamen Ort, an dem man nichts als Hunger verspürt, an mich erinnern.
    Ich stand auf und sah mich um. Alle hatten sich abgewandt. In der Ecke stand ihre Mutter mit schwarzem Kostüm, schwarzen Pumps, schwarzer Handtasche und redete mit Mrs. Halton. Sie war jetzt absolut gefasst. Woran dachte sie wirklich, während sie redete und reizend lächelte? Dass sie Lucy mit in das Haus nehmen würde, in dem die keuchenden Atemzüge ihres Mannes die ganze Luft aufsogen und der kleine weiße Pudel dauernd bellte? Ich ging hin, um mich von ihr zu verabschieden. Ich wollte Lucys Mutter sagen, dass alles meine Schuld gewesen sei. Ich wollte ihr sagen, dass Lucy mir nicht mehr vertraut hatte, dass wir keine Freundinnen mehr gewesen waren, dass ich sie nicht mehr kannte, nicht mehr kennen wollte. Wie hätte ich sie retten können, wo sie so entschlossen war zu gehen? Ich brachte kein Wort heraus.
    Die Mädchen vom Flur standen zusammengedrängt in einer Ecke, weinten, trauten sich nicht an den Sarg. Ich wollte ihnen sagen, dass sie keine Angst haben müssten. Lucy war schön. Selbst Sofia war in letzter Minute gekommen. Jemand hatte sie überredet. Nur Ernessa war in der Schule geblieben. Ich weiß, wie sehr sie Beerdigungen verabscheut, den erstickenden Geruch.
    Als Sofia mich neben der Tür entdeckte, rannte sie auf mich zu und packte mich am Arm.
    »Gehst du?«, fragte sie.
    Wir gingen gemeinsam zurück. Das Bestattungsinstitut liegt nur zehn Minuten von der Schule entfernt. Wir kamen immer daran vorbei, wenn wir nach einer Pommes und Cola im Drugstore noch durch die Stadt liefen. Wir machten Witze über Bob, der im Hinterzimmer die Leichen herrichtete. Lucy war abergläubisch. Sie betrachtete gern die Blumen im Blumengeschäft nebenan, wollte dann aber unbedingt die Straßenseite wechseln. Sie ging nie am Bestattungsinstitut vorbei. Sie fand es gruselig.
    Wir schwiegen die meiste Zeit. Ich dachte, Sofia wäre zu überwältigt, um zu reden, doch sie nahm nur allen Mut zusammen, um mich mit etwas zu konfrontieren.
    »Ich glaube, du solltest wissen, was die anderen über dich reden«, sagte sie. »Sie meinen, du seist schuld an ihrem Tod.«
    »Was soll das heißen?«
    »Du hast sie mitten in der Nacht nach draußen geschleppt.«
    »Ich bin rausgegangen, um sie zu suchen. Ich wollte sie retten. Ihr habt doch darauf bestanden, mit ihr sei alles in Ordnung. Ihr habt gesagt, ich solle mich nicht einmischen.«
    »Sie geben dir die Schuld.«
    »Mir ist egal, was sie denken. Was ist mit dir? Was denkst du denn?«
    »Willst du das ehrlich wissen? Ich denke, du bist lange von Lucy und Ernessa besessen gewesen. Du konntest ihre Freundschaft nicht akzeptieren. Ich habe Angst, dass du Lucys Tod in etwas verwandelst, das einfach nicht stimmt.«
    »Ich habe immer gewusst, was Ernessa mit Lucy macht. Ich bin nicht auf ihren Tod angewiesen, um die Wahrheit zu erkennen. Er überzeugt mich von gar nichts. Und du willst die Wahrheit nicht wissen.«
    Sofia versuchte zu lächeln, konnte das Lächeln aber nicht festhalten.
    »Ich will dir nur helfen«, sagte sie.
    Ich erwiderte ihr Lächeln.
     
    5. Mai
Morgendämmerung
    Ich möchte Lucy ihren Tod zurückgeben. Ich möchte verhindern, dass Ernessa sie in eine Kreatur verwandelt. Eine unglückliche, verzweifelte, hoffnungslose Kreatur. Lucy schwebt mit leerem Gesicht durch die Ewigkeit. Sie versteht nicht, was mit ihr geschehen ist. Sie wird für immer ein Opfer bleiben.
    Ich wache morgens auf, gehe zum Frühstück runter, in den Unterricht, übe Klavier, mache Sport, erledige die Hausaufgaben, esse zu Abend, bade, schlafe. Wie kann ich die Uhr zurückdrehen? Kann ich nicht wenigstens die Vergangenheit beherrschen, wenn
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