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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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nicht an Geister, aber ich glaube an die Ewigkeit.«
    Ich riss die Seiten aus ihrem Tagebuch und verstreute sie über dem Koffer. Das weiße Papier schwebte herunter wie ungeheure, flatternde Motten.
    Sie hatte nur noch wenige Seiten übrig. Sie hatte so viele Jahre in ein einziges Buch gezwängt.
    Auch bei mir geht der Platz zu Ende. Die Wörter quellen über die Seite hinaus, an den oberen und seitlichen Rand, zwischen die geraden Linien. Meine Handschrift ist winzig, unmöglich zu lesen.
6. Mai
Mittagszeit
    Heute habe ich Mathe blaugemacht. Ich kam um genau 10.45 Uhr zum Proberaum und wartete, bis sie aus der Kellertür herauskam. Sie ging um 10.53 Uhr durch den Flur. Damit bleiben ihr sieben Minuten, um ins Schulgebäude zu gehen und pünktlich zum Unterricht zu kommen.
Nach dem Abendessen
    Sobald der Unterricht zu Ende war, ging ich in mein Zimmer. Ich schwänzte das Softball-Training, das um Viertel nach drei beginnt. Ich zog meinen Regenmantel an, um die Uniform zu verbergen, und ging am Bahnhof vorbei in die Stadt. An der ersten Tankstelle machte ich Halt. Sie lag neben dem Supermarkt, in dem Lucy und ich immer die tiefgefrorenen Honigbrötchen gekauft hatten, die wir am Wochenende aßen. Ich sagte dem Tankwart, meine Mutter sei ein paar Straßen weiter mit leerem Tank liegen geblieben. Er verkaufte mir eine Gallone Benzin und gab mir einen Plastikkanister und einen Schlauch zum Einfüllen. Ich versprach, die Sachen später zurückzubringen. Ich gab ihm zwei Vierteldollarmünzen. Bevor ich die Tankstelle verließ, wischte ich den Kanister mit Papierhandtüchern ab, damit meine Hände nicht nach Benzin rochen. Der Kanister steht hinter den Büschen hinter der Residenz. Da kommt nie einer hin. Es war leichter, als ich gedacht hatte. Ich hatte befürchtet, ich würde mich nicht trauen, den Tankwart zu fragen, aber es war gar kein Problem.
Mitternacht
    Die Tage sind falsch. Die Nächte sind wahr.
    Am Tag vertreibe ich sie, aber nachts kommen sie wieder. Sie gleiten unter meiner Tür hindurch in meine Träume. Ich sehe Lucy wieder, und ich seufze erleichtert, weil alles nur ein Traum war. Nichts davon ist wirklich geschehen. Dann wollen wir uns umarmen und stellen fest, dass wir beide ins Nichts greifen. Lucy will, dass ich sie rette. Das merke ich an der Art, wie sie die Arme ausstreckt und nicht aufgeben will. Sie saugt geräuschvoll die Luft ein, als wäre sie es nicht gewöhnt, den seltsamen Äther einzuatmen, in dem sie nun lebt. Immer taucht Ernessa auf, mit dunklen Schatten unter den Augen. Sie steht abseits, beobachtend, belustigt. Jede Nacht wird Lucy blasser. Bald werde ich nicht mal mehr in meinen Träumen glauben, dass nichts geschehen ist.
7. Mai
Freitag, Ende der Woche
    Miss Norris war gar nicht überrascht, als ich mit meinem Tagebuch und Stift vor ihrer Tür stand. Ich hatte es den ganzen Tag in der Büchertasche herumgetragen. Sie war den ganzen Morgen hier. Vermutlich ist sie als Einzige oben geblieben, als der Alarm losging. Sie achtete nicht auf den Alarm und die Autos.
    »Ich habe Sie draußen gar nicht gesehen«, sagte ich.
    »Ich wusste, dass ich hier oben sicher bin. Ich wollte meine Vögel nicht im Stich lassen. Notfalls hätte ich das Fenster öffnen und sie fliegen lassen können.«
    Ich sitze an dem Tisch, an dem wir zusammen Griechisch übersetzt haben. Ich sehe keine Bücher, Notizhefte oder Stifte. Nur eine Tasse Tee steht auf dem Tisch, auf der Untertasse liegt ein silberner Löffel. Sie hat mich allein gelassen. Sie liest im Nebenzimmer. Sogar die Vögel sind still. Ich habe ihr gesagt, ich müsste eine Weile Tagebuch schreiben.
    Nachdem das Feuer gelöscht war, durften wir nicht zurück in die Residenz. Alle Mädchen fanden sich in schweigenden blaugrauen Gruppen zusammen und wurden ins Schulgebäude getrieben. Ich glitt ins Naturwissenschaftsgebäude und ging durch den Übergang am Aufenthaltsraum vorbei nach oben in die Residenz. Es war absolut still. Ich hielt Ausschau nach Miss Olivo mit dem wiegenden Kopf auf dem mageren Hals, die tonlos vor sich hin summte, doch ihr Stuhl war leer.
    Sie hätte heute Morgen in ihrem Koffer im Keller liegen müssen, so wie sie es jeden Morgen bis 10.53 Uhr tut. Ich hätte den Deckel öffnen sollen, um sicherzugehen, dass sie drin lag, weder tot noch lebendig, verletzlich und schwach, und ich hätte ihr etwas ins Herz stoßen oder ihren Kopf abtrennen sollen, so wie sie es in Büchern machen. Aber ich wollte sie nicht ansehen.
    Als die Flamme
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