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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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Ernessa schon die Zukunft beherrscht?
Ruhezeit
    Heute Morgen habe ich vor dem Mittagessen Klavier geübt. Ich kann nicht spielen. Ich bleibe an Passagen hängen, die ich früher mühelos geschafft habe. Meine Hände zittern, wenn ich sie vor mich halte. Ich kann sie nicht kontrollieren. Sie sind Blätter im Wind. Es weht kein Wind.
    Die Kellertür war angelehnt. Ich habe sie mit den Fingerspitzen aufgestoßen und bin die Treppe hinuntergegangen. Der eigenartige Geruch ist seit einiger Zeit verschwunden. Heute roch es nur nach trockenem Staub. Es brannte Licht, eine nackte Glühbirne hing von der Decke, erhellte einen Kreis auf dem grauen Zementboden und ließ in den Ecken Spritzer aus Dunkelheit. Oben an den Wänden gab es kleine, schmutzige Fenster, die schwaches Licht hereinließen. Ich kam an aufgestapelten alten Möbeln vorbei. Unsere Schrankkoffer sind an der hinteren Wand aufgereiht. Sie lagern hier während des Schuljahrs. Reihen schwarzer Kästen. Ihr Name stand vorn drauf, unter dem Schloss, in Goldbuchstaben: E. A. Bloch. Der Koffer war mit Aufklebern übersät – Cunard Line, Holland-Amerika-Linie, Compagnie Générale Transatlantique. Die roten und blauen Aufkleber waren zerfranst und abgerieben; nur eine Papierhaut haftete noch an der schwarzen Oberfläche. Auf dem neuesten, leuchtendsten Aufkleber mit dem Namen der Schule konnte man noch den Namen und das Reiseziel lesen. Und bei einem Aufkleber an der Seite. Die meisten der verblichenen, schrägen handschriftlichen Lettern waren noch zu erkennen: Bloch, Brangwyn Hotel. Vor ihrem Koffer lag Dreck.
    Als sie zurückgekommen ist, war ihr alles vertraut: die breiten Veranden, die das Hotel umgaben; die Dächer mit den roten Schindeln; die Wohnzimmer im Erdgeschoss; der Speisesaal, die große Treppe, der Ballsaal. Hatte sie im selben Zimmer mit Blick auf den hinteren Hof gewohnt? Sie hatte ein Picknick in der Hütte beim Wald gemacht, auf einer Decke an der Seite des Hügels gesessen. Sie hatte den Nachmittagstee auf der Veranda eingenommen und war mit einem Pony über den oberen Sportplatz geritten. Gab es damals schon die japanischen Zierkirschen? Sie müssen noch klein gewesen sein, mit Zweigen, die wie dürre Arme herabhingen. Ihre Mutter erholte sich, sie nicht. Ihre Mutter fand einen neuen Mann. Sie gab sich gefasst, doch in ihr polterten die Gedanken gegeneinander. Sie füllte die lange Wanne mit warmem Wasser. Unter Wasser tat es weniger weh. Die dunklen Farbschnörkel umwogten sie. Als das ganze Wasser rot war, konnte sie nicht mehr sehen.
    Es läutet zum Abendessen. Ich werde ständig unterbrochen.
Nach dem Abendessen
    Das schwere Messingschloss hing offen am Koffer. Es war so einfach, die beiden Schließen neben dem Schloss zu öffnen und den Deckel hochzuklappen. Ich ließ den Geruch der Wälder nach einem Regentag heraus: feucht, pilzig, verrottet. Schwarze Erdkrumen hafteten noch an allem. An Steinen, Stöcken, Blattfetzen, modrigen Holzstücken, Moos polstern, Flechten, Schalen, Strohhalmen, Gräsern, Blumen, geflügelten Ahornsamen, Birkenkätzchen, Rosskastanien, zerdrückten Motten, getrockneten Spinnen, grauen Wespennestern, verfilzten Federklumpen, Fellbüscheln, vergilbenden Knochen, einem Schlangenkiefer, Schneckenhäusern, Tierkot. Das alles hatte man mit beiden Armen vom Boden geschaufelt und in den Koffer geworfen. Mittendrin war eine Kuhle, die ihr Körper hinterlassen hatte, ein Körper, der gewichtslos und doch eine Last war. Als Kopfkissen diente ein dickes Notizbuch. Ich hob es hoch und trug es zum Fenster, um es zu lesen. Es waren Hunderte Seiten steifes, blau liniertes Papier. Jede Seite war vorn und hinten auf allen Linien beschrieben. Jeden Tag gab es einen Eintrag: Zeit, Ort, eine kurze Beschreibung des Wetters, nie mehr als zwei oder drei Wörter, die nicht mal eine ganze Zeile einnahmen. Die Tage liefen ineinander. Schnee. Regen. Sonne. Kühl. Westwind. Hagel. Hitze. Frisch. Langweilig und sinnlos. Ich las und las. Siebzig Jahre ohne Pause. Es gab keine Geheimnisse in ihrem Leben.
    Ernessa glitt durch die Zeit, rasch, auf der Suche nach denen, die waren wie sie. Jetzt war sie wieder hier, wo sie begonnen hatte.
    Ich wandte mich den jüngsten Einträgen zu, fast am Ende des Buchs. 1. Mai, Brangwyn, wärmer. Das war alles. Nur das Wetter hat Einfluss auf sie. Sie ist anfällig für Sonne, Regen, Schnee, Wind. Keine Erwähnung von Lucys steifem Haar im Mondlicht oder den silbernen Blättern der Zierkirschen. »Ich glaube
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