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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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Es war noch nicht mal zehn. Ich hörte Geräusche aus ihrem Zimmer. Lucy sprach mit jemandem. Ich lag im Bett und wusste, dass ich nicht gezwungen sein wollte, sie zu retten. Ich schloss die Augen und schlief ein. Mein Traum begann so allmählich, dass er mir nicht wie ein Traum vorkam. Ich erwachte und ging zu Lucys Zimmer. Die Badezimmertür öffnete sich, und ich ging hindurch. Lucys Bett war leer. Die Decke zurückgeschlagen. Die Matratze noch warm. Ich eilte in den Flur, über die Hintertreppe ins Erdgeschoss, durch die Tür. Jemand hatte schon einen Stock dazwischen geklemmt. Ich rannte die Auffahrt hinunter, vorbei an der breiten Freitreppe, die zur Residenz führt, vorbei an den japanischen Zierkirschen, die den oberen Sportplatz säumen. Die rosa Blumen waren verschwunden; vertrocknete, braune Blüten bedeckten den Boden. Die neuen Blätter waren silbrig grün. Steinchen und scharfe Stöcke bohrten sich in meine nackten Füße, als ich über das struppige Gras auf dem Hügelkamm rannte. Der Vollmond war gerade riesengroß über den Baumwipfeln hinter dem Sportplatz aufgegangen. Er schien so hell, dass er tiefe Schatten über das Gras warf. Es hätte Tag sein können. Es gab keine Verbindung mehr zwischen ihnen; man gelangte nicht von der Nacht zum Tag und wieder zurück. Ich stand oben auf dem Hügel. Lucy und Ernessa waren auf dem Sportplatz. Ihre weißen Nachthemden leuchteten.
    »Lucy«, rief ich, »Lucy!«
    Sie hörten mich nicht. Ernessa stand hinter und über Lucy. Sie hatte sie am Haar gepackt und zog sie vom Boden hoch. Lucys Haar schimmerte im Mondlicht wie Gold. Sie schwebten, gewichtslos wie Engel. Die sorgsam geordneten Falten ihrer Nachthemden verbargen die Füße. Engel brauchen keine Füße. Es ärgert mich immer, wenn auf alten Gemälden die Zehen unter den Gewändern hervorlugen. Lucy streckte die Arme zur Seite, am Ellbogen gebeugt, die Finger ausgestreckt, als drückte sie mit aller Gewalt gegen etwas.
    Ich rannte zu ihnen hinunter. Es dauerte lange. Die Luft war dick wie Wasser und presste sich gegen mich. Meine Beine bewegten sich auf und ab, aber ich kam nicht voran. Diesen Traum habe ich mein ganzes Leben lang geträumt und bin immer zu spät gekommen.
    Lucys Körper lag verkrümmt am Boden. Ernessa war weg.
    Ich hob Lucy auf und drückte mein Gesicht an ihres. Ihr Atem war ein leises Gurgeln.
    »Lucy, lass mich hier nicht allein. Das lasse ich nicht zu.«
    Sie hörte auf zu atmen, ihr Mund wurde starr. Ich begann sie zu schütteln. Zuerst ein bisschen, dann immer fester. Ich schlug ihren Kopf auf den Boden. Ihr Haar war eine wirre Masse. Ich konnte sie noch ins Leben rütteln. Ich war wütend, weil Lucy sterben konnte, indem sie einfach die Augen schloss.
    Dann suchte ich ihren Hals, die Stelle zwischen den Augen, die Haut über dem Herzen, die Brustwarzen nach Zeichen ab, die mir verraten könnten, wie man vom Leben zum Tod gelangt. Ich fand keine. Die Bücher irrten sich alle. Die Zeichen sind unsichtbar. Nicht mal mit einem Mikroskop könnte man sie finden.
    Ich erwachte in meinem Zimmer, das Mondlicht strömte durch das unverhängte Fenster. Zuerst dachte ich, jemand wäre in mein Zimmer gekommen und hätte die Deckenlampe eingeschaltet. Charley wäre hereingeklettert und spielte mir einen dummen Streich. Aber Charley war schon lange weg.
    Ich sprang aus dem Bett. Rannte in Lucys Zimmer. Die Tür öffnete sich für mich. Das Bett war leer und warm. Alles geschah genau wie in meinem Traum.
    Sie fanden mich im Gras, Lucys Kopf im Schoß. Es dämmerte gerade, und das Gras unter uns war feucht und kalt. Meine Beine waren taub.
Nach dem Abendessen
    Heute Nachmittag hielten wir die Totenwache für Lucy. Morgen bringen sie sie zur Beerdigung nach Hause. Ihr Vater ist nicht gekommen.
    Der weiße Sarg stand ganz allein mitten im Zimmer. Die Leute in ihren schwarzen Kleidern hatten sich an den Wänden aufgereiht. An beiden Enden des Sarges hatte man hohe Urnen aufgestellt, aus denen weiße Blumen quollen. Sie sah tot aus, wirklich tot. Ihre grünliche Haut hätte jeden überzeugt, dass sie tot war und nicht nur schlief. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr goldenes Haar war sorgfältig frisiert, das Gesicht geschminkt, die Lippen rosig, der Körper parfümiert, die Hände unter einem Berg weißer Rosen waren gefaltet. Sie trug das weiße Kleid von der Abschlussfeier im letzten Jahr und die passenden weißen Schuhe, und sie war auf weißen Satin gebettet. Alles war weiß, weiß. Und die
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