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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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schnell genug schreiben, um mit meinen Gedanken Schritt zu halten. Ich durchwühlte meinen Schreibtisch und meine Büchertasche und probierte jeden Stift aus. Keiner passt.
    Ich werde die Worte schreiben: Lucy ist tot.
    Sie ist seit über einem Tag tot.
    Endlich verstehe ich meine Rolle in der Tragödie. Ist es eine Tragödie? Oder eine Geschichte, die, noch während ich sie erzählte, zu Ende ging? Mir sind ohnehin nur wenige freie Seiten geblieben. Ich habe mein Tagebuch fast voll geschrieben. Das hatte ich mir vorgenommen.
    Ich bin noch am Leben. Meine Hand hält meinen karminroten Füller, meinen kostbarsten Besitz. Und sie bewegt sich. Das wundert mich. Meine Hand zittert, bewegt sich aber. Das Blut fließt weiter durch meinen Körper, ohne dass ich ihm sagen muss, was es zu tun hat. Ich atme ein und aus.
    Sie haben ihre Leiche weggebracht. Ihren toten Körper. Den Körper, der nicht mehr lebt. Ihre Mutter schluchzte haltlos, als sie mich umarmte. Die Krankenschwester, der Arzt, alle haben mir wieder und wieder Fragen gestellt, wollten wissen, was passiert war. Lucy hatte einen weiteren Anfall, und diesmal hörte sie auf zu atmen. Das brauche ich ihnen doch nicht zu sagen. Sie haben ihre einfache Wahrheit. Was sollen sie mit meiner besonderen Wahrheit anfangen?
    Wäre doch nur ihre Mutter ans Telefon gegangen.
Licht aus
    Im Flur kam ich an Mrs. Halton vorbei, sie war vielleicht aufgedreht. Sie weiß, wie sehr ich leide, das macht es noch schöner für sie. Sie muss sich um so vieles kümmern. Ist unglaublich beschäftigt. Sie muss mit den ganzen Mädchen reden und sie trösten, Lucys Mutter bei der Totenwache helfen und dafür sorgen, dass wir alle hingehen, Blumen bestellen, Lucys Schrankkoffer aus dem Keller holen und ihre Sachen einpacken. Es gibt so viel zu tun.
3. Mai
    Ich öffne die Urne mit der Asche meines Vaters. Weiße Knochen ragen aus der weichen, grauen Asche. Ich verstreue eine Hand voll nach der anderen. Ich will sie loswerden. Der Wind bläst sie uns ins Gesicht. Ich habe seine Asche im Mund. Sie zergeht auf meiner Zunge. Meine Hände und mein Mund sind schwarz verfärbt. »Weg mit den Knochen«, ruft meine Mutter. Sie ist ungeduldig. Entreißt mir die Urne, zieht einen langen Knochen heraus und schleudert ihn in den Himmel. Dann noch einen und noch einen. Die weißen Knochen fliegen im Bogen hoch in den Himmel. Sie kommen nicht wieder runter.
    Nachdem sie Lucy von mir weggeholt hatten, legte ich mich ins Bett und schlief. Ich schlief beinahe den ganzen Tag. Ich hatte keine Schlafprobleme. Später ging ich runter zum Abendessen. Ich weinte nicht. Alle Mädchen drängten sich nach dem Essen im Aufenthaltsraum aneinander. Diesmal war das Schweigen anders. Keine wusste, was sie sagen sollte. Gelegentlich wimmerte jemand, andere fuhren zusammen. Sie weinten abwechselnd. Ich weinte nicht einmal, als Lucys Mutter mich umarmte. »Verbrennen Sie die Leiche«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie schaute mich erstaunt an und begann wieder zu schluchzen.
    Ich bin mir sicher, dass Ernessa auch nicht geweint hat. Lucys ganz besonders gute Freundin. Heute Morgen habe ich sie in der Versammlung gesehen. Sie wirkte rot und verquollen, wie eine schwangere Frau.
    Sofia und ich haben Lucys Mutter heute Nachmittag geholfen, alle Kleider einzupacken. Ihre Mutter musste sich irgendwie beschäftigen. Bevor sie Lucys Schmuckkasten in den Koffer legte, klappte sie ihn auf und hielt ihn uns hin. »Ich möchte, dass ihr euch etwas von Lucy aussucht.« Sie begann zu weinen, als Sofia und ich den Kasten auf dem Bett auskippten. Es waren die einzigen Geräusche im Zimmer: ihr leises Schluchzen und das Klirren von Gold und Silber. Es war uns peinlich, die Ketten, Armbänder und Broschen zu entwirren. Sofia suchte sich ein silbernes Bettelarmband aus. Das hatte zu Lucy gepasst. Vermutlich hatte sie in den letzten zehn Jahren immer etwas Neues drangehängt. Glöckchen, Herzen, Sterne, Pferde, Hunde, Rollschuhe. Ich nahm ihr goldenes Kreuz. Es hatte die ganze Zeit auf dem grünen Samt in ihrem Schmuckkasten gelegen. Sie hätte es jederzeit wieder anlegen können. Das Mädchen, das jeden Sonntag in die Kirche ging und Ostern einen Hut und ein Täschchen mit passenden Lackschuhen trug, hatte gewusst, wo es war.
4. Mai
Morgendämmerung
    Ich hatte geglaubt, ich würde alles tun, um ihr das Leben zu retten. Das war, bevor man mich auf die Probe stellte.
    In jener Nacht ging ich früh schlafen. Der Streit mit Lucy hatte mich erschöpft.
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