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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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das Benzin berührte, überraschte mich die Gewalt der Explosion. Mit einem Blitz hatten die Flammen Ernessas Koffer eingekreist. Die Hitze kam plötzlich und war überall, die Flammen sogen mir die Luft aus den Lungen. Ich wollte sehen, wie das Feuer ihn verzehrte, geriet aber in Panik. Ich wollte nicht mit ihr gehen.
    Draußen schloss ich mich den Mädchen auf der Auffahrt an, doch sie wichen vor mir zurück. Ich roch. Der Rauch haftete an meinen Kleidern. Gerade eben habe ich in Miss Norris’ Bad versucht, mir den Geruch von den Händen zu waschen, doch es ist mir nicht gelungen. Ich wusch und wusch, aber der Geruch ist in meine Haut gedrungen. An meinem verschmierten Gesicht und den versengten Haaren erkannten sie, dass ich das Feuer gelegt hatte. Meine Augen prickelten und standen voller Tränen. Meine Kehle brannte. Ich hätte kein Wort sagen können, selbst wenn mich jemand angesprochen hätte. Sie ließen mich vorbei. Nur Sofia schaute mir ins Gesicht. Ich stand abseits mit verschränkten Armen und sah, wie sie mich beobachteten. Wer kann über mich urteilen?
    Die Feuerwehr traf ein. Es waren vier Autos. Alle drehten sich zu den Männern in den schwarzen Anzügen und Helmen. Sie wickelten die dicken Schläuche ab, zerschlugen mit den Beilen die Kellerfenster und spritzten auf die Flammen, die aus den Fenstern schlugen. Die Mädchen holten alle wie mit einer Kehle Luft, als das Wasser mit Wucht herausschoss. Die Feuerwehr hatte den Brand bald gelöscht. Es war mir egal, dass die Residenz nicht abgebrannt war. Sollte sie doch ewig stehen bleiben. Ich hatte den Keller und die Proberäume zerstört. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Nur um das Klavier tat es mir Leid.
    Nachdem das Feuer gelöscht war, drang nur noch körniger, dichter schwarzer Rauch aus den zerbrochenen Fenstern. Sie hatte sich damit vermischt, ihr nicht ganz wirkliches Selbst hatte sich im ewig Körperlosen aufgelöst, kämpfte darum, wieder in den festen Zustand zu gelangen.
    Ich wollte Lucys Seele retten. Aber ich wollte auch Ernessa bestrafen. Sie in ein entsetzliches Nicht-Sein treiben, eine Amphibie, die zwischen Land und Wasser gefangen ist.
    Ich ging ein Stück die Auffahrt hinunter, weg von diesen Mädchen. Hinter den Fenstern des Übergangs bewegte sich ein Schatten durch den Flur. Ich erspähte ihn in jeder Glasscheibe, wie in Zeitlupe, und in der Bewegung wurde die Gestalt deutlicher. Als sie ein Körper geworden war, blieb sie am letzten Fenster stehen und presste ihr Gesicht an die Scheibe. Niemand außer mir sah, wie sie herausschaute.
    Sie kam aus der Tür des Naturwissenschaftsgebäudes, ging auf ihre seltsame Art, bei der sie den Boden nicht zu berühren scheint. Sie hielt sich wie immer von den anderen Mädchen fern und ging die Auffahrt hinunter. Es war kurz vor Mittag. Die Sonne stand hell und hoch am Himmel. 7. Mai, Brangwyn, strahlender Sonnenschein. Noch ein ereignisloser Tag in der Ewigkeit. Hinter jedem Mädchen lag ein kleiner Schatten, ein dunkler Fingerabdruck auf dem Asphalt. Ihre Seelen. Etwas, das man festnageln kann und das einem gestohlen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Nur Ernessa hatte keinen Schatten. Sie stand in einem Kreis aus gelbem Licht, als wäre die Sonne eine Glühbirne, die direkt über ihr hing, als könnte sie jederzeit hinaufgreifen und sie ausknipsen.
    Hätte ich mich nicht gewehrt, hätte Ernessa Lucy vielleicht nicht töten müssen. In Lucys Körper war genügend Blut, um beide zu nähren. Um beide hier zu halten. Lucy hätte in ihrem geschwächten Zustand bleiben, zu- und abnehmen können wie der Mond. Sie hätte rein bleiben können.
    Nein, Ernessa brauchte den Orgasmus mit weit geöffneten Augen.
    Jeden Tag hätte sie Lucy angesehen und gedacht: Ich mach’s. Ich mach’s nicht. Ich mach’s. So wie ich das dünne Stück Stahl aus meinem Schreibtisch nehme, es in der Hand halte und betrachte, als sähe und fühlte ich es zum ersten Mal. Ich mach’s nicht. Ich mach’s. Heute Morgen habe ich es zwischen die Seiten meines Tagebuchs gelegt.
    Ich schaute aus dem Fenster von Miss Norris’ Wohnung und konnte vier Stockwerke unter mir den Gehweg sehen, der noch nass war. In den Vertiefungen hatten sich dunkle Pfützen gesammelt. Die Feuerwehrleute hatten einen Bereich abgesperrt, der mit Scherben und verkohlten Holzstücken übersät war. Ernessa ging die Freitreppe vor der Residenz hinunter zur Auffahrt, stieg in das grüne Auto, das auf sie wartete, und fuhr davon. Sie hatte nichts
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