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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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I.
    Das Zimmer war nur schwach durch das matte Licht der Abenddämmrung erhellt. Die halb geöffneten Gardinen ließen die hohen Wipfel der Bäume sehen, die in den letzten Strahlen der Sonne rot erglänzten. Unten, auf dem Boulevard des Invalides, spielten Kinder und ihre hellen Lachsalven stiegen, lieblich abgedämpft, herauf.
    Der Frühling nach der schrecklichen Februarrevolution 1848 brachte, neben lauen Lüften, empfindliche Kälte. Ein kühler Wind bewegte auch an jenem Abend die Gardinen. In dem Zimmer breitete Wehmut ihre düstere Schwingen aus. Die Möbel hoben sich undeutlich von den hellen Wanddraperien ab; das blaue Muster des Teppichs nahm allmählich eine matte Färbung an. Die Nacht war schon in die Ecken und in den oberen Teil des Zimmers eingedrungen. Nur ein langer, weißer Streifen, der von dem einen Fenster ausging, warf ein fahles Licht auf das Bett, in dem Frau von Rionne in Todesängsten röchelte. So von der Dämmerung und der ersten Frühlingsmilde durchwogt, schien das Zimmer gleichsam Mitleid mit der Leidenden kund zu geben. Das Schattendunkel nahm hier Durchsichtigkeit an; die Stille atmete unsägliche Melancholie; die Geräusche der Außenwelt verwandelten sich hier in Beileidsgemurmel und es war, als hörte man ferne Klagelaute. Blanca von Rionne saß, den Kopf in Kissen gelehnt, halb aufrecht und sah mit weit offnen Augen in das Halbdunkel hinein. Der matte Lichtstreifen erhellte ihr abgemagertes Gesicht; ihre entblößten Arme lagen auf dem Bettuch; ihre unruhigen Hände zupften an der Decke, ohne daß sie sich dessen bewußt war. Und lautlos, die Lippen halb geöffnet, von lang anhaltenden Schauern geschüttelt, hing sie Todesgedanken nach, während sie den Kopf langsam rundum bewegte.
    Sie zählte kaum dreißig Jahre. Von schmächtigem Körperbau, erschien sie noch schwächlicher infolge der Krankheit, aber das ausdrucksvolle Gesicht deutete auf einen außergewöhnlichen Verstand, eine seltene Herzensgüte und Liebesfähigkeit, eine große Seelenstärke, die sogar dem Tode Trotz zu bieten vermochte.
    Gleichwohl war ihr hin und wieder anzumerken, daß sie die Liebe zum Leben nicht vollständig niederzuzwingen vermochte. Ihre Lippen erzitterten dann, ihre Hände krampfen sich heftiger in das Bettuch, die Angst verzerrte ihr Gesicht und ihren Augen entrollten schwere Thränen, die das Fieber schnell auf ihren Wangen trocknete. Es schien dann, als wolle sie vermöge ihrer Willenskraft den Tod zurücktreiben.
    Sie neigte sich dann auch vor und betrachtete ein sechsjähriges, kleines Mädchen, das auf dem Teppich saß und mit den Quasten der Bettdecke spielte. Die Kleine blickte bisweilen, von plötzlicher Furcht gepackt, empor und machte eine betrübte Miene; in dem Augenblick aber, wo sie losweinen wollte, sah sie die Mutter ihr freundlich sanft zulächeln, worauf sie sich wieder ihrem Spiel zu wandte und sich leise mit der sogenannten Puppe unterhielt, die sie sich aus einem Lakenzipfel zurecht gemacht hatte.
    Und doch konnte man sich nichts Traurigeres vorstellen, als dieses Lächeln der Mutter. Sie wollte ihre Jeanne bei sich behalten, bis zum letzten Augenblicke und suchte den Schmerz zu verbergen, um das Kind nicht zu erschrecken. Sie sah ihrem Spiel zu, horchte auf ihr Gepapel, vergaß über der Betrachtung des blonden Köpfchens, daß sie im Sterben lag und das liebe Wesen verlassen mußte. Dann aber besann sie sich wieder, daß ihr Körper schon zu erkalten anfing, und nun packte das Entsetzen sie wieder an der Kehle, denn das Einzige, was ihr den Tod so schrecklich machte, war ja der Gedanke, daß sie ihr Kind allein in der Welt zurückließ.
    Die Krankheit war von vornherein erbarmungslos aufgetreten. Eines Abends, kurz nach dem Schlafengehen, hatte das Uebel sie befallen und sie in noch nicht vierzehn Tagen an den Rand des Grabes gebracht, ohne daß sie auch nur ein Mal von dem Krankenlager aufstehen, ohne daß sie Vorkehrungen für Jeanne’s Zukunft treffen konnte. Sie sagte sich, daß sie ihr Kind hülflos zurückließ, daß es keinen andern Führer auf seinem Lebenswege haben werde, als seinen Vater, und was für einen erbärmlichen Führer dieser abgeben würde, war ein Gedanke, der sie mit Bangigkeit erfüllte.
    Plötzlich war ihr zu Mute, als wollte ihr das Bewußtsein entschwinden, was sie für einen Vorboten des herannahenden Todes hielt. Fassungslos vor Angst lehnte sie den Kopf wieder auf das Kissen zurück und rief:
    »Jeanne, geh und sage Deinem Vater, er möchte
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