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Haut

Haut

Titel: Haut
Autoren: Mo Hayder
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    Tief in den regennassen Mendip Hills in Somerset liegen acht überflutete Kalksteinbrüche. Sie wurden schon vor langer Zeit stillgelegt; ihre Eigentümer haben sie durchnummeriert, von eins bis acht, und sie liegen in einem hufeisenförmigen Halbkreis beieinander. Nummer acht, am südöstlichen Ende, grenzt beinahe unmittelbar an das, was in der Umgebung als Elf's Grotto bezeichnet wird: die Elfengrotte, ein System aus tropfenden Höhlen und Gängen, die tief in die Erde hinunterreichen. Den regionalen Mythen zufolge führen geheime Ausgänge aus diesem Höhlensystem in die alten römischen Bleibergwerke, und in alten Zeiten haben die Elfen in Elf's Grotto die Tunnel als Fluchtwege benutzt. Manche sagen, wegen all der Sprengungen im zwanzigsten Jahrhundert münden diese Tunnel jetzt direkt in die gefluteten Steinbrüche.
    Sergeant »Flea« Marley, die Leiterin der Unterwasser-Sucheinheit der Avon and Somerset Police ließ sich kurz nach vier an einem klaren Mainachmittag in den Steinbruch Nummer acht gleiten. Sie dachte nicht an geheime Eingänge. Sie suchte nicht nach Löchern in der Wand. Sie dachte an eine Frau, die seit drei Tagen vermisst war. Die Frau hieß Lucy Mahoney, und die Profis an Land glaubten, ihre Leiche könnte hier unten sein, irgendwo unter dieser weiten Wasserfläche, eingerollt in den Tang auf einem dieser Simse.
    Flea tauchte zehn Meter hinunter und bewegte den Unterkiefer hin und her, um den Druck in ihren Ohren auszugleichen. In dieser Tiefe war das Wasser von einem gespenstischen, fast graugrünen Blau, und nur ein zarter Hauch von milchigem Kalksteinstaub schwebte da, wo ihre Flossen ihn aufgewirbelt hatten. Perfekt. Normalerweise herrschte in dem Wasser, in dem sie tauchte, null Sichtweite - als würde sie durch eine Suppe schwimmen, sodass sie ganz auf ihren Tastsinn angewiesen war -, aber hier unten konnte sie mindestens drei Meter weit sehen. Sie entfernte sich von der Einstiegsstelle und hangelte sich an der Kalksteinwand entlang, bis der Zug der Sicherungsleine konstant war. Sie erkannte jedes Detail, jede sich wiegende Wasserpflanze, jeden Steinblock auf dem Grund. Jede Stelle, an der eine Leiche hätte landen können.
    »Sarge?« Police Corporal Wellard, ihr Leinenführer, sprach in sein Funkmikrofon, und seine Stimme ertönte in ihrem Ohr, als stünde er neben ihr. »Sehen Sie was?«
    »Ja«, murmelte sie. »Ich sehe die Zukunft.«
    »Hä?«
    »Ich kann in die Zukunft sehen, Wellard. Ich sehe, wie ich in einer Stunde völlig durchgefroren hier auftauche. Und ich sehe die Enttäuschung in allen Gesichtern, weil ich mit leeren Händen komme.«
    »Wieso?«
    »Keine Ahnung. Ich glaube nur nicht, dass sie hier unten ist. Fühlt sich nicht so an. Seit wann wird sie vermisst?«
    »Seit zweieinhalb Tagen.«
    »Und ihr Wagen. Wo war der geparkt?«
    »'ne halbe Meile weit von hier. Auf der B 3135.«
    »Hielt man sie für depressiv?«
    »Ihr Exmann wurde im Zusammenhang mit der Vermisstenmeldung befragt. Er sagt ganz entschieden, sie war es nicht.«
    »Und sonst keine Verbindung mit dem Steinbruch? Nichts, was ihr gehört? Sie war nicht schon öfter hier oder so was?«
    »Nein.«
    Flea paddelte mit den Flossen ein Stück weiter, und die Nabelschnur - die Luft- und Sprechfunkleitung, die sie mit der Oberfläche verband - wehte sanft hinter ihr her. Steinbruch Nummer acht war ein berüchtigter Ort für Selbstmörder. Vielleicht hatte der polizeiliche Fahndungsberater, Stuart Pearce, die Ansicht der Familie über Lucy Mahoney nicht geteilt. Vielleicht hatte er deshalb diese spezielle Nadel in die Landkarte gestochen und sie zu dieser Suchaktion eingeteilt. Entweder das - oder er klammerte sich an einen Strohhalm. Sie war Stuart Pearce schon begegnet. Vermutlich war Letzteres der Fall.
    »Konnte sie schwimmen, Wellard? Ich hab vergessen, danach zu fagen.«
    »Ja. Sie war eine gute Schwimmerin.«
    »Dann muss sie sich mit einem Gewicht belastet haben, wenn sie Selbstmord begangen hat. Mit einem Rucksack oder so was. Das bedeutet, sie muss sich nah am Rand befinden. Lassen Sie uns die Suche im Pendelmuster durchführen, bis auf zehn Meter hinaus.«
    »Äh, Sarge, da gibt's ein Problem. Bei zehn Metern kommen Sie tiefer als fünfzig Meter.«
    Wellard besaß einen Plan des Steinbruchs. Flea hatte ihn oben studiert. Als die Steinbruchfirma fingerförmige Löcher gebohrt hatte, um den Sprengstoff hineinzuschieben, hatten sie zehn Meter lange Bohrer benutzt, und folglich war das Gestein - bevor sie
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