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Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Autoren: Jay Lake
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1.
    Der Engel erstrahlte im Schein von Hethors Lesekerze so hell wie eine Messing-Maschine. In irrationaler Hoffnung griff der junge Mann nach seiner abgenutzten Bettdecke, als könnten die zusammengenähten Baumwollreste ihn vor der Macht schützen, die in seine Dachkammer eingefallen war. Zitternd schloss er die Augen.
    Sein Meister, der Uhrmacher Franklin Bodean, hatte Hethor gelehrt, den Mechanismen seiner Arbeit Gehör zu schenken, doch hatte er bald herausgefunden, dass er auch den Rhythmus des Lebens vernehmen konnte. Als Erstes hörte Hethor stets seine eigenen Atemzüge, auch wenn die Angst, die nun von ihm Besitz ergriffen hatte, seine Atmung langsam und schwer werden ließ.
    Das alte Haus an der King George III Street in New Haven knarzte wie immer. Die Hufschläge eines Pferdes trappelten auf der Straße vorbei, begleitet vom Rumpeln der Räder eines Einspänners auf dem Kopfsteinpflaster. Weit draußen dröhnten dampfbetriebene Nebelhörner über den Long Island Sound, und die neuen electrischen Lampen zischten und knallten. Unter den Geräuschen der Stadt lag das beständige Ticken von Meister Bodeans Uhren, und darunter wiederum war das Rattern des Räderwerks der Welt zu vernehmen, wenn Hethor aufmerksam lauschte.
    Doch er war allein im Zimmer und lag in seinem Bett. Niemand sonst atmete. Keine der Holzdielen knarzte unter dem Gewicht eines fremden Körpers. Es gab auch keine fremden Gerüche. Hethor roch nur seinen eigenen Schweiß, vermischt mit dem heißen Duft des Kerzentalgs, den Ölgerüchen des Hauses und den Geruch von Holz und Maschinen. Darunter mischte sich ein Hauch von Meeresluft, der vom nahen Meer herüberwehte.
    War das ein Traum?
    »Ich bin allein.« Die Worte waren teils Gebet, teils jene Art von Zauberformel, wie Hethor sie im Sommer in den Wäldern gesprochen hatte, um das geheime Wissen der Indianer, das Wort Gottes, die dunkle Magie der Südlichen Hemisphäre sowie die immerwährende Macht der steinernen Mauern und der die Erde bedeckenden Eichen anzurufen.
    Schließlich schlug Hethor die Augen auf.
    Der Engel stand noch immer vor ihm.
    Nur schien er nicht mehr aus Messing zu sein. Er wirkte eher menschlich, sah man von seiner Größe ab, denn er schien sich bis zur Decke der Dachkammer zu erheben, gut zwei Meter hoch. Die mächtigen Flügel, die das Weiß von Schwanenfedern zeigten, umhüllten den Körper wie ein eng anliegender Umhang. Seine Haut war so blass wie die Hethors; das Gesicht wirkte schmal und herzförmig, das Kinn markant. Er funkelte Hethor aus schwarzen Augen an. Sein Profil war so klar geschnitten, dass es an eine klassische Statue erinnerte und sogar die Darstellungen der Heiligen in den großen Kirchen New Havens an Perfektion übertraf.
    Hethor hielt den Atem an, denn diese Makellosigkeit bereitete ihm Angst. Und es war eindeutig kein Traum oder gar Albtraum, jedenfalls noch nicht.
    Der Engel lächelte. Zum ersten Mal schien er mehr als nur eine Statue zu sein. »Sei gegrüßt, Hethor Jacques.«
    Mit seiner Stimme wehte auch sein Atem zu Hethor herüber, dessen Geruch nun doch an eine Statue erinnerte – kalter Marmor und taunasser Stein. Zugleich erinnerte er an kostbares Metall, an den Mechanismus einer wertvollen Uhr zum Beispiel.
    Hethor ließ die Decke los, um die Kette an seinem Hals zu ergreifen und das Räderwerk von Christus’ Räderung mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen. »Sei g-g-gegrüßt ...«, stammelte er. »W-willkommen.« Auch wenn es eine Lüge war, fühlte er sich verpflichtet, diese Worte auszusprechen.
    »Ich bin Gabriel«, sprach der Engel. »Und ich bin hier, um dir eine Aufgabe zu übertragen.«
    »Eine Aufgabe.« Hethor sog zischend Luft in seine Lunge, die ihn mit einem schmerzhaften Stich daran erinnerte, dass er der ungewöhnlichen Umstände wegen den Atem angehalten hatte. »Aber mein Leben ist bereits von Aufgaben und Pflichten erfüllt, Herr.« Pflichten gegenüber Meister Bodean, dem Unterricht an der Lateinschule in New Haven, seinen verstorbenen Eltern, der Kirche und der Krone.
    Doch der Engel schien Hethors Einwurf zu überhören. »Der Schlüssel der Ewigen Bedrohung ist verloren gegangen.«
    Schlüssel der Ewigen Bedrohung? Hethor hatte noch nie davon gehört. »Ich ...«
    »Die Antriebsfeder der Welt läuft ab«, fuhr der Engel fort. »Nur ein Mensch, der im Ebenbild des Tetragramms erschaffen wurde, kann sie wieder aufziehen. Nur du, Hethor.«
    Hethors Hände ballten sich mit solcher Kraft zu Fäusten, dass die
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