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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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Schizophrenie auf der Station für Unheilbare. All das hat Terry fürs Leben gezeichnet, und sie schwor sich, ihn zu rächen. Er hatte in seinem ganzen Leben nichts erreicht, deshalb war es ihr einziges Ziel, möglichst weit nach oben zu kommen, jedes Mittel war recht. Ich glaube, ihre gesamte Literatur ist dem Hass entsprungen. Als wir Studentinnen waren, schien Terry eigenbrötlerisch zu sein, sie freundete sich nicht mit jedem an. Von Haus aus sprach sie Deutsch und hatte ausgezeichnete Grundkenntnisse der deutschen Literatur. Das brachte sie auch an vorderste Stelle in einer siebenköpfigen Studentengruppe, die hauptsächlich aus Deutschen bestand. Die zwei letzten Plätze belegten Anna und nach ihr Kinka Ciliewicz, eine kleine Polin mit langem Haar, das ihr wie eine gelbe Mayonnaise über den Rücken floss. Anna mochte Kinka, sie war die intelligenteste von uns, konnte ironisch sein, aber Maß dabei halten, sie redete nicht viel, ich vermute, sie hatte Minderwertigkeitsgefühle, weil sie die deutsche Sprache nicht so gut beherrschte. Aber wenn wir gemeinsam von der Universität kamen, wir wohnten beide im Ghencea-Viertel, dann fing sie an, mir ihre Stegreif-Alliterationen nach dem Muster dieser altdeutschen Stabreime vorzutragen, die wir in den Seminaren ununterbrochen durchkauten, bis uns der Mund fusselig wurde, einen weiß ich noch: »Kolbert der Kahle und/Korn das verkrachte Karnickel …«, natürlich betonte sie dabei die unanständigen Silben Ka und Ko, sie liebtees, sich über unsere vertrockneten Professoren lustig zu machen, darin bestand ihre Rache. Terry konnte Kinka nicht leiden, einerseits weil sie das schwächste Glied der Gruppe war, andererseits war sie für den Humor der Polin nicht schlagfertig genug. Terry wollte unangreifbar sein, sie war sogar in die UTC eingetreten; dort erwies sie sich als äußerst umtriebig, immer in der Hoffnung, ihre Beflissenheit würde ihr einmal als Trumpf dienen. Die Einzige, die keine Minderwertigkeitsgefühle hatte, war Anna. Mit zwanzig Jahren war sie durchs Leben getrieben wie ein Strohhalm durch einen Eimer Wasser, den die leichteste Brise zur Mitte oder wieder zum Rand lenkt. Sie war bereit, sich mit jedem anzufreunden, machte keinen Unterschied zwischen einem Traktoristen und einem Universitätsassistenten, beide konnte ich gleich gut lieben. In diesem von sozialem oder professionellem Anstand noch unbehelligten Alter hatte sie nichts von Klassenkampf verstanden, ebenso wenig von der Mode der Fünfzigerjahre, tatsächlich interessierte es sie gar nicht, von den Opfern der rumänischen Oberschicht sollte ich erst viel später erfahren. Ein anderes Ideal als das der Freude kannte ich nicht. Terry hatte schon damals Momente gehabt, in denen sie mich scharf kritisierte. Ich kann dich nicht verstehen, für mich ist ein Mensch ohne Komplexe und ohne jedes Schuldgefühl ein minderwertiger Mensch und weckt in mir nicht die geringste Neugier. Mir gefiel es, zu leben wie ein einfaches Geschöpf, mein Glück nicht zu suchen, sondern zu empfangen, mit nackten Füßen durch den Hof zu laufen, über den heißen Asphalt, Paul Mormânt, den Anführer der Messerstecher aus Manu Cavafu, zu küssen; mein einziges moralisches Kriterium war mein Körper mit allseinen Wohlgefühlen und Bedürfnissen, die Gott ihm gegeben hat und die also schuldlos sind. Ich konnte mit jedem Mann schlafen, der mir gefiel, aber nicht, wenn ich im Nachhinein Vorteile daraus hätte ziehen können. Ich muss dir eine Geschichte erzählen, die mit dieser Haltung zu tun hat.
    In jenem Herbst, in dem wir aus Zagna Vădeni zurückkehrten, gab man uns unsere Entschädigung. Terry erhielt eine Anstellung bei der Zeitschrift Neuer Weg als Redakteurin mit einem Monatsgehalt von 850 Lei, ich wurde Deutschlehrerin in Sibiu, mein Nettolohn betrug 425 Lei. Ich war froh, dass ich der materiellen Abhängigkeit von den Eltern entkommen war, fühlte mich wie ein Kind, dem man die Nabelschnur durchtrennt hatte. Endlich konnte ich meine »Verrücktheit gänzlich entladen«, wie Blaga in einem Poem schrieb, das mich in meiner Vitalität bestärkte. Eine Wohnung war Anna in Sibiu nicht zugesprochen worden. Auch sie selbst hatte kein möbliertes Zimmer finden können. Wahrscheinlich mochten die Sachsen mit ihren festen moralischen Prinzipien keine windige Walachin in ihrem Hause dulden. Drei Wochen lang musste Anna auf einem Tisch im Chemielabor übernachten. Zweifellos war ich für das Leben gut gerüstet. Bevor der
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