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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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Fremdsprachenzweig Deutsch hatten Anna für eine Art Mitschülerin gehalten, die ein paar Dinge mehr wusste, als sie. Sie waren besitzergreifend in ihrer Liebe, respektierten weder ihren Wunsch nach Rückzug noch ihr Bedürfnis, unter Menschen zu kommen, sie nahmen sie vollständig in Beschlag. In Sibiu hatte Anna keine Freunde, denn alle Wochenenden und Feiertage verbrachte sie mit ihren Schülern in Dumbravă oder oben in Păltiniş. Dabei war sie so glücklich wie noch nie, sie hätte sich nicht vorstellen können, jemals etwas anderes zu wollen. Sie hatten Feuer im Wald angezündet, obwohl es verboten gewesen war, hatten Speck an Spießen gebraten und Gletscherwonne zubereitet, eine Art Eiscreme, die sie an Ort und Stelle aus frisch gepflückten Himbeeren und Gipfelschnee in einer Tasse zusammenrührten. Dann hatte das Spiel begonnen, wir traten ein in die Fiktion, in den Raum des Möglichen. Sie war natürlich immer Winnetou, Manfred Kirschner, ihr Lieblingsschüler, war Old Shatterhand. Die anderen Jungen und Mädchen waren abwechselnd Indianer oder Cowboys. Wirkletterten auf Bäume, veranstalteten von dort oben Pfeifwettbewerbe, steckten dazu zwei zur Gabel gespreizte Finger in den Mund. Wir bekämpften uns nach allen Regeln der Kunst, bis zur vollkommenen Erschöpfung, und auf dem Höhepunkt der Schlacht rollten wir ineinander verknäult über den Hang zu Tal, bis wir in der Nähe des Gatters an die Wurzeln eines gefällten Baumes stießen. Die Jungen waren kräftiger als ich, und beim Ringkampf, wenn wir innehielten, um zu Atem zu kommen, fand ich mich unter dem Gewicht eines Vierzehnjährigen zu Boden gepresst. Erst da ging mir auf, dass unser Spiel, seinem Blick nach zu urteilen, die Unschuld verloren hatte. Terry hätte im Eifer des Spiels niemals den Kopf verloren, sie trug ihn immer gerade zwischen den Schultern … doch das Gebüsch in jener Nacht, der Schlamm und Dimi grunzend über ihr … Wir erhoben uns hastig, schweigend und verwirrt, die anderen Kinder hatten nichts Unnatürliches, den Regeln des Spiels nicht Entsprechendes bemerkt; im Kreis vereint rauchten wir gemächlich unsere Friedenspfeife. Ich verbot ihnen nicht zu rauchen. Ich merke, du könntest skandalös finden, was ich dir hier erzähle, aber ich möchte, dass es einen Menschen gibt, der mich genau so kennt, wie ich bin, und wenn er mich ohne Rückhalt lieben kann, wird mir die Absolution erteilt. Die letzten Worte hatte sie an jemanden ganz Spezielles gerichtet, doch der grüne Blick spielte am Fenster mit den Fransen des Vorhangs. Ich ließ sie in meiner Anwesenheit rauchen, ich wollte nicht, dass sie logen und sich versteckten, ich wollte freie Menschen aus ihnen machen. Wir riefen uns beim Namen, und sie brachten mir Tüten mit Mirabellen oder Marillen und wilde Rosen. Nach einem Jahr legte man mirnahe, den Lehrberuf an den Nagel zu hängen. Ich kündigte, ohne mich zu rechtfertigen, mit dem Stolz eines Menschen, der weiß, er bezahlt, ohne schuldig zu sein. Ich hatte nichts zu verlieren als diese unmittelbare und unbändige Liebe meiner Jugendlichen. Ich ahnte damals nicht, dass ich sie nie wieder zurückerlangen würde. So wie man im Augenblick der Tat nicht weiß, ob und was dazu bestimmt ist, dem Vergessen anheim zu fallen oder aber in einem Brief, einer Fotografie, einem Buch zu überdauern. Immerzu stelle ich voller Mitgefühl fest, dass Begebenheiten oder Wörter ebenso ihrem Schicksal folgen wie die Menschen, die nicht im Voraus wissen, ob sie ein Erdbeben überleben werden oder nicht. Gestern bin ich sehr erschrocken. Ich hatte eine Herzattacke. Sofort nahm ich mein Nitroglyzerin, ich habe es immer zur Hand, es wirkte erst nach zwanzig Minuten. Erstarrt saß ich im Sessel, wagte nicht, mich zu rühren, nicht einmal zu atmen, ich stellte mir vor, das Herz sei ein mit Spänen gefüllter Ball an einem Gummiband, in meiner Kindheit konnte man so etwas auf dem Jahrmarkt kaufen, und wenn ich es nur ein wenig anstieße, könnte das Band augenblicklich reißen. Es ist unglaublich, wie viele Unbedarftheiten sich in unser Gehirn drängen, wenn wir zu Tode geängstigt sind. Und was zwanzig Minuten bedeuten, wenn der Tod uns innerhalb weniger Sekunden ereilen kann.
    Der Mann zündet sich wieder eine Zigarette an, sein grüner Blick spaziert nun über die Möbel, biegt um die runden Ecken der Kommode, verharrt auf den Buchrücken im Regal, die dort nach Bohemien-Art ohne jede Ordnung eingereiht stehen, wie man es nur bei
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