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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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nach Bukarest. Nachmittags erreichte mich ein Anruf, man habe ihn erschossen in einem Gebüsch an der Place Pigalle aufgefunden, an einem regnerischen Donnerstag in Paris. Jeder Verdacht auf Selbstmord wurde ausgeschlossen. Er war umgebracht worden. Mehr hat man bis heute nicht in Erfahrung gebracht. Ich nahm im Dunkeln ihre Hand, und wir schwiegen lange Zeit, bis wir einschliefen. Dieser Schlaf war so süß. Terry hatte mir ihr letztes Geheimnis eröffnet. Ich wusste, der Kreis hatte sich geschlossen. Es war wieder wie am Anfang. Nun, inzwischen sind mehr als vier Jahre vergangen, und ich habe Terry seitdem nicht wiedergesehen. Über die Presse erfuhr ich, dass sie zur Kulturattachée der rumänischen Botschaft in Bern ernannt worden war. Wie willkürlich ist das menschliche Schicksal. Wer nach der einen Art gestrickt scheint, wirdschließlich zum genauen Gegenteil. Ich, die ich immer glaubte, ich sei für das Abenteuer wie geschaffen, führte ein Leben, das so adrett und aufrichtig war wie eine deutsche Küchenzeile. Und Terry, die mich immer wegen meiner Libertinage kritisiert hatte … ich beneide sie nicht, ich denke nur, es kommt wohl immer so. Seit meiner Jugend habe ich es ja geahnt, ich werde nie so sein, wie ich mich fühle. Deshalb gefiel mir immer Bernard Shaws Teufelsschüler . Wer weiß, ich werde nie erfahren, wer ich bin, der Priester oder der Rebell?
    Die Pendeluhr in der Etage über uns schlägt zehn. Draußen hat es zu regnen begonnen. Der Mann erhebt sich. Auch sie ist aufgestanden. Sie stehen sich gegenüber. Er ist groß und hat breite Schultern. Er beherrscht sie. Es gefällt ihr, seine Kraft zu spüren. Beide sehen sich in die Augen. Der grüne Blick ist jetzt fest, wie ein sicheres Versprechen. Ihr Blick ist weich und sanft, wie eine Erwartung. »Ich danke Ihnen. Es war sehr schön. Ich werde noch viele Tage davon zehren. Zwischen uns herrscht ein besonderes Einverständnis.« Er setzt seine Kappe auf, zieht sie tief ins Gesicht, die Kappe macht sie ganz verrückt, sie weiß auch nicht warum, diese sportliche, schelmische Note. Wie damals in der Metro, sie hatten einander auf den beiden Bahnsteigen gegenübergestanden, zwischen ihnen die Schienen, und nur unsere Blicke überwanden den Graben, der uns trennte. Er küsst ihr andächtig die Hand, sie begleitet ihn zum Fahrstuhl, ohne ein Wort zu sagen. Durch die schmale hochkantige Scheibe in der Mitte der Eisentür sieht sie noch für einen Augenblick die eine Hälfte seiner Wange sanft abwärtsgleiten, bis sie ihn aus den Augen verliert. Eine halbe Wange, wie unser Treffen;Einverständnis also, soweit ein Monolog ein besonderes Einverständnis sein kann. Sie geht zurück ins Zimmer, leert den Aschenbecher, öffnet die Balkontür. Die kühle und feuchte Luft schlichtet ihre Gedanken. Sie räumt die Tellerchen und die Gläser vom Tisch und bringt sie in die Küche, die leeren Flaschen stellt sie auf den Balkon; sie lässt sich in den Sessel sinken, greift nach seinen Büchern, die auf dem Regal links neben ihr liegen, sodass sie nur ihre Hand auszustrecken braucht, um heranzureichen. Sie öffnet sie zufällig irgendwo, so wie man Spielkarten abhebt. Kein Zweifel, es liegt eine magische Provokation in dem, was sie da tut. Mal sehen, was er mir zu sagen hat, wenigstens jetzt. Immer stößt sie auf Liebespassagen. Und wenn es doch …?
    in dem augenblick, in dem man seine liebe in text verwandelt, verblasst die gelebte wirklichkeit, vielleicht sind deshalb die liebesgeschichten der dichter so wenig glaubhaft. goethe zum beispiel, er quälte sich, wenn er schrieb, mit jedem text entledigte er sich einer liebe. sicher, du wirst sagen, ich sei zynisch, oder gar, ich entweihe einen heiligen akt; wenn es dir gefällt, wenn du mich für originell hältst, wenn du überrascht bist, dass ich in meinem alter den mut habe, mich so auszudrücken? – aber denke ich wirklich so, oder peitsche ich meine meinungen und meine sprache auf, erschrocken darüber, dass sie zu lahm geworden sind, als dass ich sie noch zum schreien bringen könnte?! aber, wie soll ich sagen, ich selbst habe beobachtet, dass das papier, auf dem du schreibst, ein hervorragender mülleimer ist, alles, was sich so exzessiv im hirn ansammelt und zu schmerzen beginnt, muss entsorgtwerden. und die liebe macht sich zuerst bemerkbar, ich bin ein ballon, ein kleines luftschiff, wenn die sandsäcke mich an ort und stelle halten, werfe ich sie der reihe nach ab, und ich erhebe mich. gut, aber nicht
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