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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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hellwach, ich sah eine in grüne Farbe getauchte Hand, die deine Gesichtszüge auf ein Papier warf.Zugleich kam eine weiße Hand aus Gips durch das Schlüsselloch, wie eine Klinke. Wenn dieses verrückte Zeug dir etwas sagt, dann heißt das wohl, es ist noch nichts verloren. Jede Liebe muss gelebt werden, die körperliche wie die platonische. Es ist ein zyklischer Kreislauf, wir begegnen einander, einmal, zweimal, dreimal, bis die Schlange den Ring der Erfüllung schließt, wie Nietzsche es im Zarathustra sagt. So geschah es auch zwischen mir und Terry. Beim letzten Mal traf ich sie vollkommen unerwartet auf einem internationalen Schriftstellerkongress in Österreich – ich hatte schon angefangen, dir davon zu erzählen, und bin dann abgeschweift –, es war in Fresach, einem Feriendorf im Schoße der Karawankenberge, im südlichen Kärnten, wo Österreich an Slowenien und Italien grenzt. Wir trafen uns im Empfangsbüro, und sie bestand darauf, dass wir bei denselben Gastgebern untergebracht wurden. Es war das erste Mal, dass wir uns nach so langen Jahren in die Augen sehen konnten, ohne dieses Misstrauen, das wir früher so angestrengt voreinander zu verbergen versucht hatten, damit es uns nicht verriet. Es war ein typisch österreichisches Zimmer mit rosa Tapete, rosa Blumenkränzen, bestickten Kissen auf ungeschliffenen Holzstühlen, mit grauem Teppichboden im ganzen Raum und am Kopfende unserer nebeneinander platzierten Betten standen erneut rosafarbene Nachttischlampen auf den beiden Nachttischen. Es schien, wir hatten ein Hochzeitszimmer erwischt. Ich weiß noch, wir lachten viel an diesem Abend. Ich glaube, wir gaben uns beide Mühe, so zu sein wie früher, vielleicht wie in dieser schilfgedeckten Hütte in Zagna Vădeni, und es gelang. Nachdem wir einander erzählt hatten, was uns in der letzten Zeit alles widerfahrenwar, nachdem wir über unsere Kollegen hergezogen hatten und uns dabei wie zwei ungezogene Kinder gefreut hatten, die einem alten Mann einen Zettel mit der Aufschrift »Blödmann« auf den Rücken hefteten, knipsten wir gegen elf unsere Nachttischlampen aus, um zu schlafen. Wir lagen im Dunkeln nebeneinander, waren still und lauschten unserem Atem. Und dann brach Terry plötzlich das Schweigen: Wir waren in einem Bistro mit nur wenigen Gästen. Wir tranken dort einen Calvados wie damals, im Triumphbogen , in Studentenzeiten. Wir redeten. Schwiegen. Sprachen weiter. Er erwähnte dabei keins seiner Projekte. Die Zeit schien in einen Boxhandschuh gekrochen zu sein und von dort zu drohen. Nichts war zu erkennen, was vor ihm lag. Alles, was aus Glas oder Wasser sei, sagte er, müsse verschwinden, damit wir unseren Narzissmus abtöten. Ich hörte ihm zu und betrachtete sein Gesicht, im Dämmerlicht der Taverne waren tiefe Furchen um Lippen und Augen erschienen, sie kündigten, so warnte er mich, den Tod an. Er sah die Anzeichen. Ich würde sie auch sehen. Er versprach es mir. In kurzer Zeit. Wenn wir uns nicht mehr träfen. In den letzten Tagen hatte er all seinen Freunden geschrieben. Sämtliche Briefe trugen sein Sterbedatum. Sein faltiges Weihnachtsmann-Gesicht war knochig geworden, leichenhaft, und seine blauen Augen hell und traurig. Ich fühlte, wie er mich für sich einnahm, ich wäre mit ihm durch die Hölle gegangen. Der Kreis hatte sich geschlossen: l’éternel retour. Ich wollte, dass wir den Tod miteinander teilten, wie Liebende das Bett. Da sagte er zu mir, er sei schon seit Langem gegangen. Habe all seine Rechnungen beglichen. Er wüsste es genau. Wüsste jetzt, wie wir bezahlen. Dass unser Weg nicht insNichts führte, sondern in eine lebendige Welt, die uns im ersten Moment vielleicht blende. Er sagte, er habe den Pass und sämtliche Visa in der Tasche, dabei lachte er, und sein Gesicht wurde transparent. Das ließ mich fast an eine übernatürliche Erscheinung denken. Ich wollte mich dieser bedrohlichen Vorstellung entziehen. Hätte ihn gerne ausgelacht, bagatellisiert, du weißt, ich hatte immer einen Horror vor allem Romantischen. Aber das hier war etwas anderes, wir waren beide in einem gemeinsamen Magnetfeld gefangen, nicht dem von damals, einem anderen. Es war, als sähen wir uns zum ersten Mal, als durchschritten wir gemeinsam einen Raum ohne Zeit. Das Einzige, was dieser Begegnung fehlte, war die Zeit. Ich weiß nicht, was dann geschah, aber mit einem Mal hatte er wieder seinen natürlichen, entspannten Ausdruck, sodass ich gehen konnte. Am nächsten Tag nahm ich den Flieger
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