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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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Ich mag kein geschnittenes Haar, ich mag keine ausrasierten Achseln, ich mag kein gemähtes Gras; ich glaube, in mir wohnt ein Instinkt, der sich nicht zähmen lässt. Vielleicht habe ich deshalb auch heute noch Angst vor Telefonzellen, vor Aufzügen, ganz zu schweigen von Computern. Die Frau zieht die Beine an, glättet den Rocksaum über ihren Knöcheln und ihre Augen werden klein und schräg wie die eines Raubtiers. Der Mann sitzt in unbequemer Haltung vor ihr auf einem kleinen niedrigen Stuhl; wegen seiner langen Beine muss er die Knie fast bis ans Kinn ziehen, er trägt ein weißes Hemd aus gewöhnlichem Leinen, die Ärmel sind bis über die Ellbogen aufgekrempelt. Er hat braune, muskulöse Arme und sehr kurz geschnittenes Haar, auf seinen Wangen sprießt ein rötlicher Bartansatz. Er ist, besser: scheint unrasiert und, wie man so sagt, der Typ Mann, der gut im Bett ist. Er wirkt mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger als sie. Die Frau ist sechzig.
    Jenseits der Brücke wuchsen Pappeln, und ich sehe noch vor mir, wie die Baracken sich im verwilderten Brachland reihten wie Särge in einer Steppe; nach Sonnenuntergang versammelten sich die Tagelöhner am Ufer des Siret und bildeten drei feststehende Gruppen, alle lebten auf ihre althergebrachte Art. Abends erklangen die Chöre der Serben, das schleppende, trostlose Tamo daleko zerriss die Stille. Weiter rechts, hinter der Kantine, wo die Erde festgetreten war, tanzten die Schwaben ihren gewohnten Ländler nach dem Akkordeon eines blonden Jungen, der seine Schirmmütze in den Nacken geschoben hatte. Und weiter talabwärts, am unteren Abschnitt des Flusses, lagen die vollständig mit Schilf verkleideten Hütten, in denen die Zigeuner ihre Sonntagsbälle abhielten. Wirhatten gerade unser Examen bestanden, vor lauter Goethe hingen uns Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften zur Nase heraus. Wir waren jung, forsch, die Männer pfiffen uns hinterher. Geld, um in die Berge oder ans Meer zu fahren, hatten wir nicht. Nachdem wir einen vollen Sommermonat lang in der Flora-Konservenfabrik Gemüse sortiert hatten, kamen wir auf einem Lastwagen voller rotznäsiger Straßenjungen mit Zahnlücken zur GAS Zagna Vădeni. Im Norden lag Galaţi, im Süden Brăila. In beiden Städten hatte Terry Großeltern, besuchte sie aber nie. Dabei wäre sie gern einmal abends auf den breiten Straßen flaniert und morgens zum Hafen gegangen, um sich die Schiffe anzusehen. Terry träumte davon, hoch hinauszukommen. Anna hatte niemanden in Galaţi oder Brăila und wollte nirgendhin. Sie war drei Jahre alt gewesen, als jemand sie gefragt hatte, was sie werden wolle, wenn sie groß sei, und sie habe geantwortet: »Wasser«, so hatte es die Mutter später erzählt. Terry war ein Rotschopf mit Sommersprossen, langen Beinen und großen Brüsten. Wir lagen auf der Bastmatte im Eingang; die Position werde ich nie vergessen: Wir waren wie entzweigeschnitten, der Körper in der Hütte und der Kopf im Freien, so sahen wir in den Himmel, sie verbreitete sich über ihre Liebesabenteuer als Fünfzehnjährige mit einem ungarischen Baron, der ihr in den Ferien in Gătaia – dort besaßen ihre Eltern ein kleines Anwesen – Tuberosen und Champagner geschenkte hatte. Natürlich hatte der Baron sich später eine neue Lebensgeschichte zugelegt und war Parteimitglied geworden. Sie hatte ihn im rosafarbenen, mit grauen Vögeln bedruckten Kimono empfangen, sich am Bett niedergekniet, die Schnürbänder seiner Schuhe gelöst, und ich hattedie Szene einer Kawabata-Verfilmung vor Augen. Ich glaubte kein Wort von dem, was sie da von sich gab, aber ich hörte ihr gerne zu. Sie konnte gut erzählen, und ich dachte, wie schade, wenn sie nicht Schriftstellerin wird – und sie wurde es.
    Im Januar, noch war der Christbaum nicht wieder abgeschmückt und über die Balkonbrüstung geworfen, wurde Anna sechzig. Seit dem Fünfzigsten will ich nicht mehr gefeiert werden. Das schien mir genauso absurd, wie verwelkten Blumen frisches Wasser zu geben. Am Morgen hatte ich die Wohnzimmertür geschlossen, sodass von draußen nicht zu hören war, dass der Fernseher lief, den Telefonhörer hatte ich neben den Apparat gelegt, eventuelle Gratulanten mussten glauben, es wäre besetzt. Ich war in meinen Sessel abgetaucht und hatte auf irgendetwas gewartet. Der Mann rutschte auf seinem zu kleinen Stuhl hin und her, wäre gerne aufgestanden, aber es war ihm peinlich, da sie immer weitersprach. Um zu unterbrechen, bat er um Erlaubnis, sich
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