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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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fast alle meine Träume spielen in Wien oder Timişoara – diese beidenStädte überschneiden sich in meinem Unterbewusstsein. In ihnen finde ich zurück zu einem Raum, der mir anscheinend immer schon gehörte. Ich befand mich vor der Österreichischen Kanzlei, sie liegt gleich neben der Hofburg und geht auf die Löbelgasse, in der ich einmal wohnte, linker Hand die Metastasio- und die Ballgasse, die auf den Platz der Minoritenkirche münden, in Wahrheit war es die orthodoxe Kirche auf dem Burghügel mit dem hohen, mit gelben Dachschindeln gedeckten Turm. Und plötzlich sah ich, wie aus dem Tor des Palastes, hinter dem Zaun aus zierlichen Eisenstäben, deren Spitzen wie vergoldete Lanzen schimmerten, zwei blonde Jungen in Husarenuniform erschienen. Ich wusste im Traum, dies waren die Kronprinzen Rudolf und Franz Ferdinand. Sie schlenderten den Ring hinauf, hinter ihnen drein stürzte eine Schar wilder Pferde, stürmisch rissen sie alles nieder, was ihnen in den Weg trat. Ich rettete mich in eine Seitengasse am Donauufer, es war wohl auch die Bega, hinter das Palace und das Lloyd Hotel, auf deren Schildern las ich, unglaublich, Palais Esterházy, Palais Palffy oder Palais Pallavicini … und als ich die Augen hob, sah ich einen weiten Himmel, rund und gelb, einen Büffel mit zerrissenem Maul, aus dem das Blut floss, und plötzlich war der Himmel nur noch ein See, der ihn verschlang. Ich glaube, im Traum hat sich mir ein königliches Ende angezeigt.
    Und dennoch, wenn ich auch oft den Eindruck erwecke, ich schwebte irgendwo über der Wirklichkeit, so lassen mich viele Dinge heute noch glauben, dass ich viel besser für das Leben gerüstet bin als Terry. Du wirst mich auslachen, wirst sagen, ich sei naiv, aber die Freude darüber, unter ganz gleich welchenUmständen existieren zu können, empfinde ich mit meinem ganzen Körper. Ich bete sie an, die ewig unveränderliche Natur, das Wunderbare dieser immer wieder von Neuem beginnenden Kreisläufe, und auch die Sphäre des Menschen, ihre Veränderungen, die ich auf Schritt und Tritt spüre, dieses Hinausgehen in einen weiten, freien Tag nach langer Polarnacht. Es gibt so viele Dinge, die mich tief beeindrucken. Wenn du von der Piaţa Miniş kommst, dann liegt an einem Gebäude im Waggonhausstil mit kleinen Lädchen und einer Post in der Mitte, ich weiß nicht, ob du dich dort auskennst, ein breiter Streifen, der mit Linden und Wildrosen bepflanzt ist. Jemand hat dort am Ende des Rasenstücks aus Kartons eine Hütte zusammengebastelt und ein Stück Wagenplane darübergelegt. In der Hütte lebt eine große rote Hündin, ihre Zitzen hängen bis zum Boden, elf kleine Hündchen saugen aus Leibeskräften daran, kleine Fellknäuel. Da sonst nicht viel los ist, bleiben die Kinder und Rentner minutenlang dort stehen, mit offenem Mund wie im zoologischen Garten. Und Anna auch. Vor der Hütte steht immer ein Schüsselchen mit in frische Milch getauchtem Brot und mit Würsten, die im Gras verstreut liegen. Ich sage dir, ich spüre auf Schritt und Tritt, es verändert sich etwas. Die Rumänen beginnen wieder zu werden, wie sie immer waren, mitleidig und gutherzig. Ich habe noch die Stimme eines alten Mannes im Ohr, wie er sich an die Hündin wandte, als sie plötzlich beim Vorbeigehen eines Polizisten außer sich geriet: »Lass nur, mein Mädchen, ärgere dich nicht über die, das lohnt sich nicht.« Manchmal habe ich solche Sätze im Kopf und weiß kaum noch, wo sie herkommen. Zum Beispiel zwei ungefähr zehnjährige Jungen bei einer Teppichstange,an der man gut Gymnastik machen kann; kaum zwei Schritte entfernt zwei Mädchen. Die Damen steigen zuerst auf die Stange, du weißt schon, Ladies first. Wie schnell wir lernen, wie schnell! Vielleicht ist das auch eine Art Diebstahl. Weißt du, man sagt doch »jemandem das Handwerk stehlen«, warum sollte man nicht auch sagen können »jemandem die Höflichkeit stehlen«. Wenn man nichts anderes hat, ist das nicht nur entschuldbar, es ist wirklich bewundernswert.
    Anna steht auf, sie geht zum Fenster, um es zu öffnen. Sie denkt, er wird den Hinweis verstehen und nicht mehr so viel rauchen. Durch das dünne Gewebe ihres weiten transparenten Rocks spürt sie seinen grünen Blick. Sie bleibt etwas zu lange vor dem Fenster stehen, dort, wo jene Akaziengruppe steht, dort, wo die Erde rußig ist von den Feuerstellen der Zigeuner, die ihre Fässer an den Straßenrand stellen, sich auf dem Gras räkeln, eine Flasche von Mund zu Mund wandern
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