Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
Vom Netzwerk:
natürlich einen Freifahrtschein für sich in Anspruch genommen hatten. Was für ein Blutbad war das damals auf dem Universitätsplatz gewesen! Und sie selbst mitten in dieser Hölle, mit ihrer Pêcheur-Hose und dem mit amerikanischen Insignien bedruckten Beutel über der Schulter. Und die Weiber, die ihr nachgerufen hatten: »Hast dich schön angezogen, Süße, siehst aus wie ’ne Extrawurst«, und die Faust, die wie ein schwerer Stein zwischenihren Schultern gelandet war, und der Mann, der mich aufgehoben hatte, und dieser zwielichtige Bergarbeiter mit seiner schwarzen, viel zu neuen glänzenden Trägerhose, seinen Tieraugen, die in alle Richtungen gegangen waren, als habe er unter Drogen gestanden, die Angst vor dieser Wildheit, als sie geflohen war. Adrian sprach sie alle frei von jeglicher Kriminalität, gab ihnen recht, hielt seinem Gesprächspartner dann Vorträge über sozialistische Ethik, der antwortete manchmal und hob dabei die Stimme, um ihn zum Schweigen zu bringen. Plötzlich hörte ich sie nicht mehr, nur ihre Lippen sah ich noch, die sich immer schneller bewegten, als wäre dort im Zentrum ihres Gesichts ein Wirbel entstanden, der ihre Züge verwischte. Dem einen schwollen die Kieferknochen, und die Nase verlängerte sich zum Rüssel; er wühlte in den Papieren und grunzte, seine Augen wurden klein, die Wimpern weiß und kurz; dem anderen wuchs plötzlich braunes Kraushaar. Er bellte, oder besser: winselte, immer wieder, wie außer sich. Der Pudel und das Schwein, ein Titel für eine Fabel. Wirklich. Warum fange ich nicht an, Fabeln zu schreiben, diese Verrücktheit, Menschen als Tiere wahrzunehmen, packt mich nämlich immer häufiger, sogar an Orten und in Situationen, die sich dem Spielerischen eigentlich verweigern, in Konzerten zum Beispiel, in der Kirche, in der Bibliothek der Akademie. Ich werde dir erzählen, was mir als Kind in Sibiu passiert ist. Mit meiner Mutter war ich am Gründonnerstag zur Zwölf-Apostel-Messe gegangen. In der Mitte der Kathedrale hielt der Metropolit selbst die Messe, er war groß und schlank, trug ein blaues, golddurchwirktes Messgewand, seine Stimme war dünn und schrill, und neben ihmschwenkte ein kleinwüchsiger, sehr junger Priester ununterbrochen das Weihrauchfass, ein Diakon wahrscheinlich, in schwarzer Sutane mit silberbestickter Stola, die im Licht des Kandelabers fast weiß aussah. Und was flüstert mir Mutter da ins Ohr: Der Pfau und der Pinguin. Wir fingen an, wie verrückt zu lachen, lachten schon nicht mehr, prusteten eher, erstickten das Lachen mit unseren Taschentüchern, taten, als würden wir husten. Wir konnten nicht länger in der Kirche bleiben. Als ich nun hastig aufstand und hinausdrängte wie jemand, der nicht länger an sich halten kann, riss ich die Jesus-Ikone zu Boden. Da entfuhr mir das Lachen plötzlich mit einer solchen Wildheit wie alles Verbotene. Ich stürzte aus der Kirche, stieß die Leute an, die ihre Kerzen in den Händen hielten und mir so entsetzt nachsahen, als wäre ich ein böses Omen. Sie lacht über ihre eigene Erzählung. Durchlebt die Szene in allen Einzelheiten. Sie wirft den Kopf in den Nacken, entblößt ihm ihr Gebiss, in dem ein Backenzahn fehlt, groß und weich hüpfen ihre Brüste unter der Bluse. Der grüne Blick zieht sich beklommen zurück, wie man Finger aus einem zu engen Handschuh nimmt, folgt einer Fliege und ruht dann auf der Fensterscheibe, vor der sich die Pappel wiegt.
    Anna hatte Politik noch nie gemocht. Sie war in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, von klein auf waren Bücher im Haus gewesen, jedoch keine Zeitungen. Drei Dinge hatten ihr am meisten missfallen: Geige üben, gefüllte Paprika essen und Zeitung lesen. Das hieß nicht, dass sie nicht Zeitungsjournalistin hatte werden wollte. Ich weiß noch, ich bin in der vierten Lyzeumsklasse gewesen, als die Klassenlehrerin von uns verlangt hat, wir sollten ein Papier herausnehmen undaufschreiben, was wir werden wollen, wenn wir groß sind. Ich schrieb ohne zu zögern Kurtisane oder Spionin, fügte aber außerdem noch Zeitungsjournalistin hinzu, weshalb weiß ich nicht. Zweifellos sprachen die Dutzende amerikanischer Filme aus mir, die ich mir atemlos in den Kinos auf der Griviţei-Straße oder an der Piaţa Matache angesehen hatte. Wenn ich an meine Kindheit denke, dann schäme ich mich manchmal, wie sehr ich alles liebte, was glitzerte; ich war verrückt nach kräftigen, knalligen Farben, ich weiß, all diese Geschichten sprechen nicht für mich.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher