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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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Eins
    Der Raum erinnerte an ein sinkendes Schiff. Holz knarrte am Boden, in den Kirchenbänken, oben auf der Empore. Um die Mauern herum jagte ein heftiger Märzwind immerzu im Kreis.
    Die Gemeinde stimmte das Vaterunser an, als stünde jede einzelne Seele auf dem Spiel. Himmel. Brot. Unseren Schuldigern. Versuchung. Die Worte huschten an Shells Ohren vorbei wie Kaninchen, die in ihren Löchern verschwanden. Sie versuchte die Nase zu verziehen, damit sie schmaler wurde. Uns vor dem Bösen. Vor ihr schaukelte der Hut von Mrs McGrath, die Feder wirkte, als wäre sie betrunken: Shell hätte drei zu eins gewettet, dass sie jeden Moment herunterfallen würde. Declan Ronan, der Messdiener an diesem Tag, prüfte gerade das Tabernakel, während er sich mit halb geschlossenen Augen die Lippen leckte. Was immer er wohl gerade dachte, heilig war es nicht.
    Trix und Jimmy saßen links und rechts von ihr und schwangen ihre Beine mit den rutschenden Socken. Sie spielten: Wer kommt höher, wer ist schneller.
    »Pscht!«, zischte Shell und stieß Jimmy in die Rippen.
    »Selber pscht«, sagte Jimmy laut.
    Zum Glück hörte Dad es nicht. Inzwischen stand er oben am Mikrofon und hielt die Lesung wie ein geistig umnachteter Prophet. Seine Koteletten schimmerten grau. Die Falten auf seiner wuchtigen Stirn hoben und senkten sich. Im vergangenen Jahr war er ungeheuer fromm geworden. Zum vorbildlichsten Kirchgänger, der die Gesangbücher verteilte und bei jeder Kollekte mit der Sammelbüchse herumging. An den meisten Tagen fuhr er ins nahe gelegene Castlerock und lief dort die Straßen ab, um für kirchliche Zwecke zu sammeln. Oft sah Shell ihn sonntagmorgens, wie er oben im Schlafzimmer seine Lesung probte. Dann saß er kerzengerade vor dem dreiteiligen Spiegel von Mums alter Frisierkommode und spie die Worte aus wie faule Trauben.
    Shell dagegen hatte für die Kirche keine Zeit. Nicht seit Mums Tod, der inzwischen länger als ein Jahr zurücklag. Damals, als Shell noch klein gewesen war, hatte Mum immer dafür gesorgt, dass sie, Jimmy und Trix strahlend saubere Sachen anzogen, und dann hatte sie ihnen mit Buntstiften und Papier geholfen die Messe durchzustehen. »Shell, mal mir doch mal einen Engel, der im Regen Hurling spielt«, »Jimmy, mal mir eine Katze, die mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug springt.« Mum hatte die Priester, die Kerzen und die Rosenkränze so geliebt. Am meisten aber hatte sie die Heilige Jungfrau Maria geliebt. Bei jeder Gelegenheit hatte sie »Heilige Jungfrau Maria« gesagt, von morgens bis abends. »Heilige Jungfrau Maria«, wenn die Kartoffeln überkochten oder wenn der Hund eine Krähe gefangen hatte. »Heilige Jungfrau Maria«, wenn die Scones schön weich aus dem Backofen kamen.
    Dann starb sie.
    Shell erinnerte sich daran, wie es gewesen war, an Mums Bett zu stehen, während sie entschwebte. Dr. Fallon, Mrs Duggan und Mrs McGrath waren da gewesen, zusammen mit Pater Carroll, der mit ihnen einmal den Rosenkranz gebetet hatte. Dad hatte danebengestanden wie ein Statist in einem Film, hatte die Worte mehr mit dem Mund geformt, als sie tatsächlich mitzusprechen. Jetzt und in der Stunde unseres … Bei dem Wort »Todes« war Shell erstarrt. Tod. Ein Wort wie fauliger Atem. Je näher man ihm kam, desto weiter wünschte man sich fort. In diesem Moment war ihr bewusst geworden, dass sie nicht mehr an den Himmel glaubte. Mum kam nirgendwohin. Sie ging ins Nichts und Nirgends. Ihr Gesicht war eingefallen, faltig und aschfahl. Ihre dünnen Finger kneteten die Bettdecke und fuhren dabei mechanisch auf und ab. Vor Shells geistigem Auge stieg Jesus vom Kreuz und ging in die nächste Bar. Mums Gesicht verzog sich wie das eines Babys, kurz bevor es losweinte. Dann starb sie. Jesus trank sein Bier aus und verschwand ganz und gar aus Shells Leben. Mrs McGrath hielt Mum den Spiegel, den sie sonst immer zum Augenbrauenzupfen benutzt hatte, an den Mund und sagte: »Sie ist von uns gegangen.« Es war still. Dad rührte sich nicht. Nur sein Mund formte immer noch die Worte der Gebete, stumm, wie das Maul eines Fisches auf dem Trockenen.
    Drei Tage lang hielten sie Totenwache. Mums Gesicht wurde wächsern. Ihre Finger liefen blau an und wurden steif, dann gelb und wieder schlaff. Sie umwickelten sie mit den milchweißen Perlen ihres Rosenkranzes. Dann begruben sie Mum. Es war ein Schauspiel, alle aus dem Dorf standen mit gesenkten Köpfen da, die Männer zogen die Hüte. Es gab Prozessionen und Kerzen, ernste Blicke, Gebete
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