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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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sagte er. »Eine Vision aus dem Evangelium.«
    »Wir haben nur herumgealbert.«
    »Das Spiel wirkte seltsam, Shell.«
    Etwas in der Art seiner Betonung brachte sie dazu, ihm in die Augen zu sehen. Eine weiche Lichtkugel lag in seinem Blick, deswegen sagte sie ihm die Wahrheit. »Ich war am Beten, Pater. Ich wollte, dass sie mir wehtun, um das Gebet zu spüren. Es wirklich zu spüren. Richtig stark.«
    Er nahm ihr das Glas aus der Hand.
    »Möchtest du noch eins?«
    »Nein, Pater.«
    »Na, dann ab mit dir.«
    »Ja, Pater.«
    Er brachte sie zur Tür, doch als sie wieder auf den Gartenweg hinaustrat, legte sich seine Hand auf ihre Schulter und hielt sie zurück. Sie fühlte es, eine feste, freundliche Berührung.
    »Shell«, sagte er. »Ein Gebet muss nicht wehtun. Vertraue mir.«
    Sie hob den Kopf. In seinen Augen lag ewige Weisheit.
    »Das tue ich, Pater«, sagte sie.
    Er ließ sie los. Eilig lief Shell den Gartenweg entlang, durch das Tor und die Straße hinunter. Pater Rose blickte ihr nach, das wusste sie, denn es war nicht zu hören, wie sich hinter ihr die Haustür schloss.

Vier
    Nach dem Tee betete Dad mit ihnen wie gewöhnlich ein Gesätz des Rosenkranzes. Sie waren gerade beim ersten der schmerzhaften Geheimnisse, der Todesangst im Garten. Von Seelenqual gepeinigt wartete Jesus darauf, gefangen genommen zu werden. Jimmy stieß mit der Zunge von innen gegen die Wange, dass sie sich wölbte wie ein Zelt. Sehnsüchtig starrte er zu dem alten Klavier hinüber und bewegte seine Finger, als würde er darauf spielen. Trix setzte sich auf ihre Fersen und starrte zum Fliegenfänger hinauf, den Dad zuvor am Lampenschirm aufgehängt hatte. Die erste Fliege zappelte bereits daran, sie war am Sterben. Shell schloss die Augen. Dads Stimme verlor sich. Stattdessen gesellte sich Jesus in seiner Pein zu ihr. Sie lief mit ihm den Kiesweg entlang, der durch den priesterlichen Hausgarten führte. Sie erreichten das hohe Steppengras, warteten auf die Ankunft der Soldaten und seufzten gemeinsam bei dem Gedanken an das drohende Kreuz und die Nägel. Jesus, sagte Shell, ich wünschte, ich könnte dir die Nägel abnehmen. Er drehte sich zu ihr um und packte sie am Arm. Sein Gesicht war das von Pater Rose, doch statt des Priestergewands trug er eine strahlend weiße Tunika. Seine Füße darunter waren nackt. Sein Gesicht war unrasiert, das Haar war länger. Shell, sagte er mit einem melodischen Midlands-Akzent, deine gütige Liebe ist aller Trost, den ich an diesem Tag der Finsternis brauche.
    »Shell!« Dads strenge Stimme. »Du hast aufgehört zu beten!«
    »Nein, habe ich nicht«, sagte Shell. »Ich habe mit Jesus gesprochen, in Gedanken.«
    »Das ist Blasphemie!«, fuhr er sie an. Er warf ihr den Rosenkranz hin. »Du betest die nächsten fünf Perlen. Und du, Jimmy, hörst mit dem Gezappel auf oder dieses Klavier bekommt meine Axt zu spüren.«
    Abends im Bett, das Licht war bereits aus, widmete Shell sich wieder ihren Visionen. Sie fand sich in einem Boot wieder. Jesus war auf der anderen Seite des Sees und wandelte übers Wasser. Als sie über den Bootsrand kletterte, stellte sie fest, dass die Wasseroberfläche einem elastischen Trampolin glich. Hüpfend wie ein Astronaut auf dem Mond gelangte sie zu ihm hinüber. Jesus nahm ihre Hand und sie liefen über den See, während die Sonne versank und die Sterne aufgingen. Als sie in den Schlaf hinüberglitt, drehte er sich um und sagte etwas zu ihr. Sie beugte sich vor, um seine Worte zu verstehen, und plötzlich geriet die Oberfläche des Sees in Bewegung und sie stürzte hinab in die graugrüne Tiefe, die sich auftat. Eine dichte, schwere Stille umgab sie. Dann war aus weiter Ferne das gleichmäßige Ticken einer Uhr zu hören.

Fünf
    Am Mittwochmorgen, nachdem sie mit den Steinen fertig waren, verkündete Dad, dass mit dem Schuleschwänzen Schluss sei. Sie hätten hinzugehen, und zwar schleunigst.
    »Ich dachte, du hättest gesagt, wir könnten die letzte Woche freihaben«, maulte Jimmy.
    »Ich will aber nicht in die Schule gehen, Dadda«, sagte Trix. Sie nannte ihn jedes Mal Dadda, wenn sie etwas Bestimmtes wollte, aber diesmal funktionierte es nicht.
    »Bei zwei seid ihr in der Schule oder ihr kriegt was mit der Wäscheleine, alle drei«, sagte er. »Ich dulde keine störenden Telefonanrufe mehr.«
    Shell horchte auf. Also war er wieder von irgendjemandem aus der Schule belästigt worden.
    Sie half Trix sich fertig zu machen und stellte beide mit je einem Kaugummi ruhig, die
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