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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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Mrs Quinns Enkelkind begraben hatte.
    Am darauffolgenden Sonntag verkündete Pater Carroll, dass zu Ostern ein neuer Kurat bei ihnen sein würde, ein pensionierter Witwer, der sich in späteren Lebensjahren der Kirche zugewandt habe. Pater Rose wurde in Coolbar nie mehr erwähnt, aber Shells Erinnerung an ihn verblasste nicht, sondern wurde stärker. Seine Worte, sein Lächeln, seine Gesten begegneten ihr mit jedem Tag. Wir sehen uns sicher wieder, Shell. Irgendwo auf dieser gottverlassenen Insel. Sie stellte ihn sich in Offaly vor, kniend vor dem ewigen Licht, und sie betete, er möge seinen Weg finden. Die Adresse seiner Mutter verwahrte sie sicher in ihrer taubenblauen Messetasche.
    Ihre alte Grundschullehrerin, Miss Donoghue, schaute eines Abends vorbei und versuchte sie davon zu überzeugen, wieder in die Schule zu gehen. »Du bist doch nicht dumm«, sagte sie. »Das bist du nie gewesen.« Shell weigerte sich. Sie sei fertig mit dieser Institution, sagte sie. Aber am Ende ging sie schließlich auf Miss Donoghues Angebot ein, sich abends von ihr unterrichten zu lassen. Miss Donoghue bestand darauf, es unbezahlt zu tun, was Shell unmöglich ablehnen konnte. Und so begann sie, jeden Dienstagabend hinzugehen, an Dads spielfreiem Tag.
    Der Winter ging zu Ende und in einer Woche mit wunderbarem Wetter kam der Jahrmarkt in die Stadt. Im Jahr zuvor waren Jimmy und Trix todunglücklich gewesen, weil kein Geld da gewesen war, um hinzugehen. Diesmal brachte Shell Dad dazu, ihr ein bisschen Geld für ein paar Karussellfahrten zu geben, und an einem Samstagnachmittag brachen sie zu dritt auf und gingen in die Stadt.
    Am Pier blitzte und dröhnte die gesamte Parkanlage, als sie ankamen, und verrückte Apparate drängten sich dicht an dicht. Stände glitzerten. Die Luft vibrierte vor heftiger Rockmusik. Sie stürzten sich ins Gewimmel.
    »Kann ich welche haben?«, schrie Trix und zeigte auf den Zuckerwattestand. Shell kaufte drei dicke Spindeln und sie aßen sie bis zum letzten Fussel auf. Sie fuhren Autoscooter und Geisterbahn und bald war von dem Geld kaum noch etwas übrig. Zu dritt wanderten sie zwischen den Karussells herum, um sich die letzte Fahrt auszusuchen.
    Eine Frau ging an ihnen vorbei und streifte Shells Ärmel. Shell drehte sich um und blickte ihr nach, doch sie sah nur ihren Rücken, der sich rasch entfernte. Ihr Haar war mit einem Schal aus Chiffon hochgebunden, wie der olivgrüne, den Mum immer bei Spaziergängen am Strand getragen hatte. Die Hände in den Taschen, eilte die Frau Richtung Pier. Ihr Gang hatte etwas Wiegendes, Vertrautes, der Kopf war zur Seite geneigt, als dächte sie an Zeiten und Orte in weiter Ferne, genau wie Mum es immer getan hatte, wenn sie am Strand entlanglief oder ihre ruhigeren Klavierstücke spielte. Zu ihren beiden Seiten wogte die Menschenmenge, doch sie ließ sich nicht aufhalten, suchte sich ihren Weg. Und während sie davoneilte, begann ihre Stimme in Shells Kopf zu singen. Diesmal erkannte sie das Lied sofort:
Am Himmel stand der erste Stern,
da ging sie fort und tat mir weh,
wie der Schwan im Abendlicht,
gleitend über den See.
    Die Melodie verklang. Mum, geh nicht fort. Shell packte Trix an der Hand und hastete der Gestalt hinterher, aber sie war bereits im Gewühl verschwunden. Nein, dort tauchte ihr Kopf wieder auf, ihr Ellbogen. Sie trug den weichen Ledermantel, den schwarzen, ihren besten.
    »Shell«, murrte Jimmy. »Wo willst du denn hin?«
    Sie standen vor dem Riesenrad. Die Frau war nirgends zu entdecken. »Ich weiß nicht. Hierhin wahrscheinlich.« Ihre Augen suchten die Menge ab.
    »Das Riesenrad«, sagte Trix mit leuchtenden Augen. »Bin ich dafür etwa noch zu klein?«
    Ich habe sie verloren. Vielleicht war es ja nur Einbildung.
    »Bin ich zu klein?« Die Stimme von Trix, fast nur ein Wimmern.
    »Nein, Trix. Gib Ruhe. Nicht, wenn wir alle zusammen gehen.«
    Sie kaufte die Fahrscheine von dem letzten Geld. Der Mann ließ sie alle zusammen in dieselbe Gondel einsteigen, klappte die Sicherungsstange über ihren Beinen herunter und das Rad setzte sich in Bewegung, drehte sich ein Stück zurück, damit die Nächsten einsteigen konnten. Als alle Fahrgäste in den Gondeln saßen, begann es zu beschleunigen, wurde schneller und schneller, schwang rückwärts nach oben, dass ihnen der Atem stockte. Trix klammerte sich von der einen Seite an Shell, Jimmy von der anderen, ihre sechs Hände und Füße verknoteten sich. Rückwärts hinauf, wuuuusch, zischte der Wind zwischen
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