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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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einem Fremden am Steuer. Irgendjemand, der sie aus dem Höllenloch herausscheuchen wird, das sie umgibt. Er hält an und bietet ihr an einzusteigen, mit einer brennenden Zigarette, die dort auf sie wartet. Die Scheinwerfer leuchten golden und er will Richtung Stadt. Sie könnte die ganze Strecke mitfahren. Das Radio dudelt den Smooth-Operator-Song, Across the north and south, to Key Largo, und der Regen trommelt im Takt dazu, aber das Baby in ihrem Kopf ist immer noch am Schreien. Also steigt sie ein, nimmt die Zigarette an und schließt die Wagentür. Und er fährt los, aus der Dunkelheit in die Dunkelheit, fort von Coolbar, fort für immer …
    Shell nahm die Fäuste von den Augen, und die gelben Streifen verblassten nach und nach. Das Stimmengewirr wurde schwächer, die Sonne auf dem Sand gewann an Kraft. Sie stand auf.
    Ein Spaziergänger mit seinem Hund kam vorbei. Ein durchgedrehter Terrier, der den Wellen nachjagte.
    So muss es gewesen sein, dachte sie. So kam das Baby in die Höhle. Es gab keine Möglichkeit, es zu beweisen, aber Shell wusste es. Irgendwo in Irland oder jenseits davon saß Bridie und lauschte den Nachrichten, schweigend, ohne ein Wort zu sagen. Und jemand anders, vielleicht jemand aus der näheren Umgebung, legte Gebinde nieder, an jener Stelle, wo Bridie ihr Kind zurückgelassen hatte. Vielleicht Mrs Quinn? Vielleicht.
    Molloy hatte Recht gehabt. Aber es war Bridie gewesen und nicht sie, die das Schreien des Babys nicht mehr hatte ertragen können. Ob sie es wohl noch immer hörte? In ihren Träumen? Wo immer sie auch war?
    Wut kochte in ihr hoch wie schäumend heiße Milch, Wut darüber, was Bridie getan hatte, auf Mrs Quinn, auf Declan, auf Molloy, auf fast alle im Dorf, sogar auf Mrs Duggan und ihren kleinen Jungen mit dem Loch im Herzen, das man repariert hatte. Sie trat in den Sand, so dass er in alle Richtungen flog. Pater Rose kam ihr wieder in den Sinn, wie er damals zum ersten Mal die Messe gelesen hatte. Ist euch jemals der Gedanke gekommen, dass es ohne Zorn auch keine Liebe geben kann? Durch den Wind liefen ihr Tränen die Wange herunter. Sie wischte sie fort, versuchte Pater Roses Stimme zu ersticken, doch es war zwecklos. In ihren Gedanken redete er weiter, als sie wieder aufs Fahrrad stieg und davonradelte. Sie erinnerte sich an das Schaf, das gerade noch rechtzeitig der Kühlerhaube ausgewichen war und sich so gerettet hatte. In Gottes Hand, das bin ich, Shell. Genau wie du. Genau wie wir alle, Shell.
    Der Asphalt unter ihr zischte, während sie nach Coolbar zurückfuhr. Im Haus der Quinns war immer noch niemand wach. Aber in der Hecke gegenüber blühte ein weißer Strauch, den Shell wiedererkannte.
    Das zarte Gebinde, das steinerne Sims, das erfrorene Kind: ein Leid auf dieser Welt.

Fünfzig
    Die Nachricht über den gerichtsmedizinischen Befund der beiden toten Babys erschien am folgenden Tag in der überregionalen Zeitung:
DIE ZWILLINGSPROGNOSE
Das Team der Dubliner Gerichtsmediziner hat zweifelsfrei nachgewiesen, dass es sich bei den unweit von Castlerock aufgefundenen toten Säuglingen, einem Jungen und einem Mädchen, nicht um Zwillinge handelt. Zwillingsgeschwister können zuweilen unterschiedliche Blutgruppen haben, wie es bei diesen beiden der Fall war, aber inzwischen wurde auch festgestellt, dass die fetale Entwicklung der beiden Babys nicht übereinstimmt. Obwohl sie ungefähr zum gleichen Zeitpunkt geboren wurden, weist der Zeitpunkt ihrer Zeugung eine Abweichung von etwa fünf Wochen auf, so das Expertenteam. Während das am Strand aufgefundene Baby etwa in der 40. Schwangerschaftswoche (voll entwickelt) zur Welt gekommen sein soll, deutet die Sachlage bei dem Kind des nicht genannten Mädchens darauf hin, dass es sich um eine Frühgeburt handelt, etwa in der 35. Schwangerschaftswoche.
Ebenso ließ sich nachweisen, dass das letztere der beiden Kinder tot geboren wurde. Laut Befund soll sich die Nabelschnur während der Wehen um den Hals des Kindes geschlungen haben. Tragischerweise geht der Bericht davon aus, dass das kleine Mädchen wohl überlebt hätte, wenn der Beistand einer ausgebildeten Hebamme und eine entsprechende medizinische Nachsorge gewährleistet gewesen wären.
Von der Garda Síochána wird nun erwartet, dass sie sämtliche Anklagepunkte gegen den Vater der jungen Mutter fallenlässt, der sich seit Weihnachten in Untersuchungshaft befindet. Seine nicht der Wahrheit entsprechenden Geständnisse haben im Parlament zu großer Besorgnis über das
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