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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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Vorgehen in diesem Fall geführt; einzelne Abgeordnete fordern einen unabhängigen Untersuchungsausschuss zur Arbeitsweise der Gardai. Superintendent Dermot Molloy steht derzeit für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung.
    Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Jeder behauptete, er hätte es von Anfang an gewusst. Von Mrs McGrath war zu hören, dass das Baby in der Höhle wahrscheinlich ein »Hausiererkind« sei. Sie hätte vor ein paar Wochen fahrendes Volk gesehen, die oben an der Moorstraße campierten, und was könne man von solchen Leuten schon erwarten?
    Shell las den Artikel wieder und wieder und zuerst ergab er keinen Sinn. Fetale Entwicklung. Schwangerschaftswoche. Frühgeburt. Tragischerweise. Dann erinnerte sie sich an die graue wurmähnliche Schnur um Rosies Hals. An ihre winzigen Gliedmaßen. Sie dachte an das Baby in der Höhle und an jenes, das sie im Arm gehalten hatte, an Bridies Verschwinden und an Declan, der vor und nach Ostern zwischen ihnen hin und her gependelt war wie ein Pferd, das weiterzieht, um eine andere Stelle abzugrasen.
    Ein Mädchen und ein Junge.
    Blutgruppe A, Blutgruppe 0.
    Voll entwickelt, Frühgeburt.
    Alles passte zusammen.
    Shell saß am Flügelfenster im Haus der Duggans und blickte hinüber zum verschneiten Wäldchen. Die toten Babys waren keine Zwillinge, sie waren Halbgeschwister, hineingeboren in ein und dasselbe Jammertal.
    Sie betete für ihre beiden Seelen.

Einundfünfzig
    Nachdem die Anklage gegen Dad nun fallengelassen worden war, sollte er an diesem Nachmittag heimkommen. Shell kehrte ins Haus zurück, um alles für seine Ankunft vorzubereiten. Auf der Fußmatte lag ein ganzer Berg von Post. Sie warf den Stapel auf den Tisch. Die drei Betten in ihrem Zimmer waren ein einziges Chaos ineinander verknäulter Decken. Sie zog die Bettwäsche ab. Dann öffnete sie das Klavier und holte die Whiskeyflasche heraus. Sie war noch zur Hälfte gefüllt. Sie goss die bernsteingelbe Flüssigkeit ins Spülbecken, nicht ohne zuvor drei Schlucke genommen zu haben. Shell wartete darauf, dass sich nach dem dritten jene Wärme einstellte, von der Dad gesprochen hatte, aber das Einzige, was sie spürte, war ein heftiges Brennen in ihrer Kehle und dass sich in ihrer Nase ein Niesen ankündigte. Sie holte das rosafarbene Kleid wieder aus seinem Versteck unter dem Bett hervor, klopfte den Staub heraus und hängte es zurück in Dads Kleiderschrank. Etwas Unangenehmes haftete dem Zimmer an. Sein Bett sah verheerend aus, die Vorhänge waren zugezogen. Die Luft war stickig und roch nach Albträumen. Shell öffnete die Fenster und der Wind fuhr herein. Sie zog auch sein Bett ab.
    Erschöpft setzte sie sich auf Dads Stuhl und horchte. Zuerst war nichts zu hören, nicht einmal die Brise. Dann begann sich hie und da etwas zu regen. Ein leises Knarren, ein Seufzen, der letzte Nachhall eines lang ausgehaltenen Klavierakkords, vibrierend, irgendwo ganz in der Nähe.
    Sie ging die Post durch. Rechnungen. Zwei verspätete Weihnachtskarten von irgendwelchen Leuten, an die sie sich nicht erinnerte, weit entfernt lebende Jugendfreunde von Mum, die offenbar gar nicht wussten, dass sie tot war. Dann fiel ihr ein weißer Umschlag, den sie fast übersehen hätte, in die Hände. Mit blauen Luftpostaufklebern, seltsamen Briefmarken und die Adresse war in einer trägen Handschrift geschrieben. Ein Brief an sie. Ihre Augen weiteten sich. An sie? Sie hatte noch nie einen Brief aus dem Ausland bekommen. Shell öffnete ihn.
    Die Karte, die zum Vorschein kam, zeigte ein Rotkehlchen, das auf einem verschneiten Zweig hockte und einen Briefumschlag im Schnabel hielt. Es hatte die Flügel ausgebreitet und sein eines Auge zwinkerte. Zwischen den Flügeln ragten schräge Buchstaben auf, die vom einen Rand der Karte zum anderen jagten.
Liebe Shell,
    Amerika ist verrückt. New York ist noch verrückter. Ich fahre mit einem großen Laster quer über die Insel, rauf und runter. Der Himmel sieht aus wie Zuckerwatte, bestimmt alles nur Fake. Wir jobben auf Baustellen und saufen und ziehen um die Häuser und niemand hält uns auf, mich, Gerry und die anderen Jungs. Mir ist mein Weihnachtsgeld geklaut worden, sonst hätte ich Dir einen neuen BH geschickt. Gebaggert wird in einem Etablissement namens Hell’s Kitchen in der elften Straße, genau meine Kragenweite, würdest Du sagen. Die meisten Nächte verbringen wir im Irish Pub, der »The Shamrock« heißt. Schlimmer als Dads verdammte Gartenzwerge, sag ich
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