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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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schimmern. Shell lief über den Sand dahin und wünschte, sie hätte einen Schal dabeigehabt, um ihre umherfliegenden Haare zu bändigen.
Das Meer macht Spiegel auf dem Sand,
die mein Fuß zertritt.
In ihrem Blick schwingt jedes Mal
Trauer und auch Freude mit.
    Es war das Lied, das sie und Mum bei ihren gemeinsamen Strandspaziergängen erfunden hatten. Als sie die Worte vor sich hin sprach, wurde ihr plötzlich leicht zu Mute. Sie begann im Gehen fröhlich zu hüpfen und lächelte, zum ersten Mal seit einer ganzen Ewigkeit, so kam es ihr vor.
    Draußen auf dem Meer war kein Schiff zu entdecken, und auch keine Spaziergänger mit Hunden waren unterwegs. Sie war ganz allein. Shell näherte sich der Felsnase, wo die Höhle lag. Ihre gute Laune legte sich wieder. Die zerfetzten Reste eines gelben Absperrbandes der Gardai flatterten im Wind. Überall war der Sand aufgewühlt. Offenbar waren die Leute gleich scharenweise in die Höhle gegangen und wieder herausgekommen.
    Sie ließ sich auf alle viere nieder und krabbelte durch den Spalt hinein. Du bist wie ein brünstiges Mutterschaf, Shell. Und du bist wie ein Stier, der mit den Hörnern irgendwo feststeckt, Declan. In einem Dornbusch.
    Im Innern der Höhle hing ein uralter, muffiger Geruch, der alles andere überdeckte. Die Kälte und die Finsternis durchzuckten Shell wie ein Messer. Zuerst konnten ihre Augen nichts erkennen. Dann tauchten die dunklen, unebenen Wände auf und die verstreuten Kiesel. Und dort, direkt oberhalb der Stelle, wo sie und Declan damals gelegen hatten, war der Felsvorsprung, wie ein steinernes Sims. Ein Gebinde lag darauf. Keines aus Blumen, sondern ein paar Zweige eines seltenen Busches, mit Trauben milchweißer Beeren daran. Zusammengebunden mit einem cremefarbenen Band. Sie hob den Strauß hoch und roch daran. Er war frisch und grün. Jemand musste ihn vor nicht allzu langer Zeit hier abgelegt haben, vielleicht gestern.
    Jeder konnte es gewesen sein, dachte Shell. Jeder in ganz Irland, der die Nachrichten verfolgt hatte. Oder irgendein Einwohner von Coolbar. Sie legte ihn zurück und kroch wieder hinaus, in Gedanken versunken.
    Es war gut, die Höhle wieder zu verlassen. Mum hatte sie als einen Ort der Schönheit bezeichnet, erschaffen durch Wind und Regen, doch an diesem Morgen kam es ihr vor wie ein Grab, ein Grab, von dem kein Toter jemals auferstehen würde. Hastig lief sie zurück, Richtung Autoparkplatz, und hielt sich dabei im Windschatten der Klippen. Auf halber Strecke begann das Stimmengewirr in ihrem Kopf erneut. Sie fand einen geschützten Platz und setzte sich hin, um nachzudenken.
    Die Anzeichen für Bridies Schwangerschaft waren offensichtlich gewesen, wenn man es richtig bedachte. Im vergangenen Schuljahr hatte sie häufig blass und müde ausgesehen. Sie hatte über das Schulessen die Nase gerümpft, obwohl man sie vorher immer damit aufgezogen hatte, dass sie alles hinunterschlang wie eine menschliche Mülltonne, egal wie widerlich es schmeckte.
    Im Juli musste es dann unübersehbar gewesen sein. Sie und ihre Mutter hatten wahrscheinlich den erbittertsten Streit aller Zeiten geführt. Sie hatten sich nie verstanden: Bridie hatte immer erzählt, dass ihre Mutter ziemlich aufbrausend war. Vielleicht hatte Mrs Quinn ihre Tochter aus dem Haus geworfen. Oder Bridie war freiwillig ausgezogen. Aber sie war weder in Kilbran gewesen, wie Mrs Quinn behauptete, noch in Amerika, wie Theresa Sheehy erzählt hatte. Wahrscheinlich war sie per Anhalter gefahren und nicht viel weiter als bis Cork gekommen. Ohne nennenswerte Ersparnisse, ohne Bleibe, ohne Job. Was hatte sie wohl getan?
    Shell hörte Dads Stimme. Es ist so trostlos dort, Shell, unten am Flussufer, am Hafen. Die Frauen da, alle möglichen Frauen, egal welches Alter. Manche sind so jung wie du, Shell. Wie diese Schulfreundin von dir, Bridie. Genauso dreist und forsch wie sie.
    War es das, was aus Bridie geworden war? Ein Geschöpf der Nacht? Eine Straßendirne? Sie hatte immer etwas von einer Maria Magdalena an sich gehabt, fand Declan. Bridie, Bridie, Bridielein, wenn man klingelt, lässt sie dich rein, hatte er gewitzelt. Shell verstand endlich, was er gemeint hatte. Sie verstand es nur zu gut. Bei dem Gedanken daran, dass er jede Einzelne von ihnen mit seinen Versen verspottet hatte, bohrte sich der Absatz ihres Schuhs in den Kies.
    Sie blickte aufs Meer hinaus. Ein gelber Pfad erstreckte sich von der aufgehenden Sonne über das ruhige Wasser und verschwand Richtung Horizont.
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