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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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Sie schloss die Augen und stellte sich vor, was wohl geschehen war, in jener Nacht kurz vor Weihnachten, als Pater Rose auf seiner Rückfahrt von der Ziegeninsel gesehen hatte, was er gesehen hatte …
    … Dort war Bridie, die in der stillen Dezembernacht die Küstenstraße entlanglief. Über ihr ging der Mond auf, vor ihr lag flach und ruhig das Meer. Sie war mit einem Baby nach Coolbar zurückgekehrt, sie sehnte sich nach einem Bett, ein paar freundlichen Worten, nach jemandem, der ihr mit dem Kleinen half. Sie hatte beschlossen sich mit ihrer Mutter zu vertragen. Doch als sie nach Hause kam, war niemand da. Sie waren über Weihnachten nach Kilbran gefahren, einfach mal zur Abwechslung. Das hatte Mrs Quinn erzählt und dies zumindest hatte gestimmt, Shell wusste es. Aber Bridie hatte es nicht gewusst. Sie war den ganzen Weg von Cork per Anhalter gefahren, um ein leeres Haus vorzufinden.
    Shell war nun eins mit Bridie, näherte sich Coolbar, unbeobachtet. Sie hatte die Lichter von Coolbar durch die Bäume hindurchschimmern sehen. Sie brauchte dringend eine Kippe, eine Ölfunzel, wie Declan sie oft genannt hatte. Bald würde die Nacht hereinbrechen, dann wäre sie wie ein Geist in der Finsternis, ein Weihnachtsgeist, den niemand sah. Sie hatte sich danach gesehnt, dass jemand da war, der ihr das schreiende Baby abnahm. Nach ihrem eigenen Bett, dem vertrauten Duft der Bettwäsche, nach dem Wind, der gegen das Fenster peitschte, nach den alten Träumen, die sie früher als Kind gehabt hatte.
    Aber es brennt kein Licht. Der Wagen ist fort. Niemand ist da. Sie ist allein.
    Sie weiß nicht, wohin. Sie folgt weiter der Küstenstraße, ohne zu wissen, warum. Ein Auto fährt vorbei, macht einen Bogen, um ihr auszuweichen. Sie springt in eine Hecke. Versteckt das Baby. Das war knapp. Klettert den Hang hinauf und läuft quer über die Felder. Über das kurze Gras, an den Gattern und Hecken vorbei. Die Babytragetasche schleppend. Das Kind schreit vor Kälte, wie eine kaputte Schallplatte. Und der Mond steht am Himmel wie ein Wasserball, der auf den Meereswellen tanzt. Sie kommt zu dem Feldweg und läuft die Abkürzung hinunter zum Strand. Hier draußen ist es taghell. Der Wind ist schneidend. Bridie sitzt an derselben Stelle, wo Shell gerade sitzt. Zusammen mit ihrem Baby. Und sie denkt: Ich gehe ins Wasser, sobald der Mond höher steigt. Wir ertrinken gemeinsam. Aber sie tut es nicht. Sie redet mit dem Wind. Das Baby schreit. Die Höhle fällt ihr wieder ein.
    Haggertys Höllenloch.
    Die Abdeckerei.
    Die Höhle, wo Declan immer mit ihr hinging. Wo die Mädchen hinkommen, um zu vögeln. In der die Jungen die Mädchen fesselten und sich selbst überließen. Sie kriecht durch den Spalt hinein, die Babytragetasche vor sich herschiebend. Das Baby schreit immer noch, nur leiser inzwischen, wie das Maunzen einer streunenden Katze. Es ist müde. Drinnen zündet Bridie ein Streichholz an. Und dort ist es, das steinerne Sims in der Felswand. Wie geschaffen für die Babytasche. Sie legt das Kind dort oben ab, hoch und trocken. Wenn die Flut kommt, wird sie das Kind nicht mit sich reißen. Vielleicht hört der Kleine auf zu weinen. Es gefällt ihm hier draußen, denkt sie. Er ist ruhig, seine Augenlider sind endlich geschlossen, seine Wangen sind weich, wie kleine Beutel. Sie schleicht auf Zehenspitzen hinaus, denkt, dass er nun tief und fest schlafen wird. Ich komme zurück, um ihn zu holen. Später.
    Draußen unter dem Mond branden die Wellen ans Ufer. Es nieselt und Bridie schwebt über den Sand wie ein Geist. Muss in Bewegung bleiben, um sich warm zu halten. Die Last ist fort. Irgendwer wird es finden und mitnehmen. Bei Gott, bestimmt wird irgendwer es mitnehmen. Das alles hat nichts mit ihr zu tun. Sie ist leicht wie eine Feder und in ihrem Kopf erklingt eine seltsame Walzermelodie. Ehe sie weiß, wie ihr geschieht, ist sie den Hang hinaufgeklettert, hinaus aus dem Wind und wieder auf der Straße, ausschreitend. Das Baby ist am Weinen, nur diesmal in ihrem Kopf, also geht sie schneller. Hinter ihr nähert sich ein Auto. Sie streckt den Daumen aus und es bremst ab. Bridie dreht sich um und schaut nach, wer es ist, als der Wagen zum Stehen kommt, aber dann erkennt sie den Priester, den jungen Kerl in seiner albernen Klapperkiste. Sie schüttelt den Kopf, winkt ihn vorbei und er fährt weiter. Sie entfernt sich immer weiter vom Strand, vom Mond, Richtung Zukunft. Bis das nächste Auto kommt, eine schwarze Limousine, warm und hell, mit
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