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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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sie vom Tag zuvor aufgespart hatte. Dann hetzte sie sie übers Feld ins Dorf und lieferte sie an der Grundschule ab. Sie selbst nahm den Bus nach Castlerock, zur Oberschule.
    Sie kam gerade noch rechtzeitig. Bridie Quinn schlenderte ihr entgegen, es hatte noch nicht geläutet. Shell und Bridie waren die einzigen Mädchen aus Coolbar in ihrer Klasse. Sie waren die beiden schwarzen Schafe des vierten Jahrgangs und gute Freundinnen, wenn sie nicht gerade schwänzten. Bridies Vater war vor Jahren verschwunden. Sie, ihre jüngeren Geschwister und ihre Mutter bewohnten einen verfallenen Bungalow mit drei Zimmern, der am anderen Ende von Coolbar lag, an der Straße zur Ziegeninsel. Sie besaßen einen Fernseher und heizten mit Butangas, aber es gab kein Badezimmer und waschen mussten sie im Anbau. Niemand begriff, wie sie alle zusammen in dieses Haus passten. Bridie musste sich das Bett mit ihrer Mutter teilen, ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, aber sie war Shells einzige Freundin.
    »Shell Talent, wie siehst du nur aus!«, rief sie.
    Shell blickte an ihrem schmuddeligen Kleid herunter und warf einen Blick über den Schulhof. Sie war die Einzige, die bereits die Sommerschuluniform trug, ein madengrünes, formloses Sackkleid mit schmalem Gürtel, Ärmeln bis zu den Ellbogen und einem flachen, breiten Kragen mit Marinestreifen. Das Wetter war schön und sie war davon ausgegangen, dass in der Schule inzwischen alle zur Sommerkleidung gewechselt hatten.
    »Ich habe mich eben vertan«, seufzte sie.
    »Es geht doch nicht ums Kleid«, sagte Bridie und winkte ab. Die Gefahren des allmorgendlichen Ratespiels zum Jahreszeitenwechsel waren für jeden nachvollziehbar. »Es geht um deine Figur, die sich unter dem Kleid abzeichnet. Du trägst keinen BH.«
    Shell wand sich. »Ja und?«
    »Bei so einem Kleid sieht man, wie sie runterhängen.«
    »Nein!«
    »Ich seh’s. Wie zwei Quallen.«
    »Hör auf.«
    »Es stimmt.«
    Shell seufzte. »Ich habe überhaupt keinen BH.«
    »Du solltest dir einen besorgen.«
    »Dad würde mir nie im Leben Geld dafür geben.«
    »Sollen wir bei Meehan’s einen klauen? Das merken die nie. Ich könnte dir einen schönen aussuchen. Blaue Spitze, Formbügel, was du willst.«
    Shell kicherte. »Das würdest du tun?«
    »Klar. Aber erst mal müsstest du mir natürlich deine Größe sagen.«
    »Ich weiß nicht, wie groß ich bin. Ich bin nie gemessen worden.«
    »Nicht mal die Körbchengröße?«
    »Körbchen?«
    »Na, du weißt schon.« Bridie wölbte beide Hände vor ihrer Brust.
    »Ich habe keine Ahnung«, gestand Shell.
    »Wenn ich dich so ansehe, würde ich sagen: C.«
    »Zehn?«
    »C, Shell. Die C-Größe.«
    Die Zeh-Größe. Wie seltsam das klang. Sie dachte an die Zehen von Pater Rose, die unter den Hosenaufschlägen hervorgeschaut hatten. »Die Zeh-Größe«, murmelte sie, wie eine Beschwörungsformel. »Spielt die Größe der Füße dabei denn eine Rolle?«
    Bridie ließ ihre Augenlider flattern, um anzudeuten, dass Shell den ersten Preis als irische Miss Blöd gewonnen hatte.
    »Nein, nur die Größe deiner Brüste«, sagte sie. »Und die sind groß genug, dass du einen BH brauchst.« Ihre Stimme wurde weicher und sie hakte sich bei Shell ein, was sie sonst nur selten tat. »Ich mochte es gar nicht, als meine anfingen zu wachsen«, vertraute sie ihr an. »Aber jetzt habe ich mich dran gewöhnt. Mit einem BH stehen sie mehr hervor. Die Leute gucken hin. Ich hab 34D, aber sag’s nicht weiter.«
    »Versprochen«, sagte Shell.
    »Komm doch nach der Schule mit«, sagte Bridie. »Wir schauen bei Meehan’s vorbei. Ich schmuggele ihn aus der Schachtel in meine Schultasche – und dann türmen wir.«
    »Bist du auch sicher, dass wir nicht erwischt werden?«
    »Absolut sicher. Ich habe es schon mal gemacht. Oft.«
    Es läutete.
    In der Pause nahm Shell das Thema wieder auf.
    »Bridie«, fragte sie. »Gab es früher denn auch schon BHs?«
    Bridie dachte nach. »Es muss welche gegeben haben«, meinte sie schließlich. »Sonst hätten die Frauen ja immer und überall geschlackert. So wie du.«
    »Meinst du«, flüsterte Shell, »dass die Jungfrau Maria auch einen getragen hat?«
    Bridie heulte auf. »Au warte, das muss ich Declan erzählen – vielleicht fällt ihm ein Witz dazu ein.«
    »Ich meine es ernst.«
    »Unter all diesen weiten blauen Gewändern und Umhängen? Das mussten sie doch, oder? Nach einer Geburt werden sie viermal so groß. Ich weiß das, meine Mutter
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