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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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verschwand. Dann rückte er wieder an dem Rosenkranz herum.
    »Sie können den Sarg jetzt schließen«, hatte er dem Bestatter zugerufen. »Ich bin so weit.«
    Was er mit dem Ring getan hatte, wusste Shell nicht. Er lag nicht in seiner Sockenschublade, dort hatte sie nachgesehen. Wahrscheinlich hatte er ihn bei seinem nächsten Ausflug in die Stadt verkauft.
    Dad und seine verrückten Lesungen. Dad und die Steine auf dem Acker hinterm Haus. Dad und das Rasseln der Spendenbüchsen. Mühsam schritt sie über das Feld den Hang hinauf, den Briefumschlag mit dem Kleingeld unter den Arm geklemmt. Am Himmel stand die Sonne, mächtig und bleich. Die Lämmer waren draußen. Eines kam auf sie zugesprungen und blökte, dann schoss es pfeilschnell wieder davon, auf federleichten Beinen. Dies ist das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt. Der Gedanke an Dad verblasste. Sie erreichte den Gipfel des Hügels. Die Wolken wirkten wie entfernte Verwandte der Lämmer, so aufgeplustert, wie sie waren. Die Bäume schäumten vor weißen Blüten. Shell fühlte sich wie eine Braut, als sie unter ihnen hindurchlief. Zwei Felder weiter tauchte vor ihr in einer Bergfalte Coolbar auf. Shell setzte sich auf eine Bank und zog mit ruhiger Hand die Lasche des Umschlags auf – sie sah zu, wie die Klebstofffäden sich erst dehnten und dann zusammenschnellten, während sie zog. Fünf der Silbermünzen nahm sie heraus und warf sie in die Luft, damit die Armen der Gemeinde sie in einer Stunde der Not finden würden.
    »Sieh nur her, Dad!«, rief sie.
    Die Münzen funkelten und fielen weit verstreut zu Boden. Lachend verschloss sie den Umschlag wieder und lief die letzte Weide hinunter, kurz bevor die Siedlung begann.
    Sie schlenderte den Bürgersteig entlang durchs Dorf. Am Laden von McGrath hielt der wunderbare Duft nach Zeitungen und Zigaretten sie auf. Dort gab es das ganze Jahr über Postkarten und Wasserbälle zu kaufen, außerdem Lakritze, Eiswaffeln, Eimer und Schaufeln aus Plastik. Sie hörte, wie das Geld aus dem Umschlag nach ihr rief, und wünschte, sie hätte die Silberstücke selbst behalten. Noch mehr wagte sie nicht herauszunehmen. In ihrem Bauch regte sich ein bohrendes Gefühl des Verlangens. Außer einem Ei hatte sie an diesem Tag noch nichts gegessen.
    Mr McGrath bemerkte sie durchs Ladenfenster. Er grüßte, seine leuchtend roten Wangen und die breite Stirn wackelten wie der Kopf bei einem Spielzeughund. Shell zuckte bedauernd mit den Schultern, da kam er mit einer Hand voll Kaugummi heraus, steckte sie ihr zu und legte den Finger an den Mund.
    »Das bleibt unter uns, Shell. Erzähl’s nicht weiter, sonst rennt mir das ganze Dorf die Tür ein.«
    »Ja, Mr McGrath. Ganz bestimmt nicht. Ich versprech’s.« Sie wurde so rot wie das Kaugummipapier und lief innerlich jubelnd die Straße hinunter. Mit Sicherheit hatte Jesus sie dafür belohnt, dass sie zuvor das Geld für die Armen verstreut hatte.
    Das Haus des Pastors lag ein wenig weiter die Straße hinauf, hinter der Kirche. Pater Carroll wohnte dort, solange Shell denken konnte, zusammen mit seiner Haushälterin, Nora Canterville. Die Kuraten kamen und gingen, Pater Carroll und Nora aber blieben. Von Nora wurde behauptet, sie sei die beste Köchin der ganzen Grafschaft Cork, berühmt für eine Consommé, so klar und rein wie die Seele eines Neugeborenen. Dad sagte immer, dass man nach einer Einladung zum Essen mindestens drei Kilo schwerer nach Hause ging, als man gekommen war.
    Shell rechnete nicht damit, auf Pater Rose zu treffen. Sie ging davon aus, dass er wohl seine Runde durch die Gemeinde machte, hinauf zum Krankenhaus oder zur Ziegeninsel, der ganz in der Nähe gelegenen Halbinsel, um dort die Mittwochsmesse zu lesen. Als sie an der Tür läutete, dachte sie an die Kaffeetorte und nicht an ihn.
    Es dauerte lange, bis irgendjemand kam. Sie wollte gerade schon gehen, als sie Schritte auf der Treppe hörte, dann, wie sie näher kamen, sicher und gemessen, zu bestimmt für Nora, doch zu schnell für Pater Carroll. Shell hielt den Atem an. Ihr Magen begann zu flattern.
    Die Tür öffnete sich. Pater Rose blickte zu Shell herunter, die eine Augenbraue erhoben, aber er sagte nichts.
    »Mein Vater«, sagte sie und hielt ihm den Umschlag hin, »hat mir aufgetragen Ihnen dies hier zu geben.«
    Er nahm den Umschlag am oberen Ende, so dass das Geld nach unten rutschte. Das ordinäre Geklimper der Münzen trieb Shell die Schamröte in die Wangen. Geld und das Wort Gottes
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