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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition)
Autoren: Siobhan Dowd
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wütete mit gerechtem Zorn und Pater Roses Mund bewegte sich feierlich im Takt dazu. Um ihn herum bebte die Luft vor leuchtenden Bildern. Shell konnte die Vögel in ihren Käfigen unter dem Deckengewölbe hören, das Klimpern der römischen Münzen. Sie sah die fantastischen Farben der jüdischen Gewänder, das Licht, das zwischen den Säulen des Tempels einfiel. Die Bilder und Töne ergossen sich von der Kanzel, hingen in der Luft und drehten sich wie Engel im Licht des Frühlings.
    »Bitte setzt euch«, sagte Pater Rose, als er geendet hatte. Die Gemeinde nahm Platz. Nur Shell blieb stehen, mit offenem Mund. Die Tische der Geldmänner wurden zu zischenden Schlangen. Die Massen verfielen in Schweigen. Jesus wurde Mensch, zu einem traurigen und leibhaftigen, der Shell anlächelte, während sie wie benommen dastand.
    »Setz dich bitte«, wiederholte Pater Rose sanft.
    Um sie herum wurde es unruhig und Shell fiel wieder ein, wo sie sich befand. O Gott. Alle starren mich an. Sie sank auf die Bank. Trix kicherte. Jimmy rammte ihr sein Fernrohr in die Seite.
    Pater Rose stieg die Altarstufen herab und stellte sich vor die Gemeinde, die Arme verschränkt, grinsend, als würde er Gäste zum Abendessen begrüßen. Das Abweichen vom üblichen Verlauf wurde mit Gemurmel kommentiert. Pater Carroll bestieg für seine Predigt sonst immer die Kanzel. Pater Rose begann zu sprechen.
    »Nun. Heute haben wir ja so einiges von düsterer Verdammnis zu hören bekommen«, sagte er. »Von zerstörten Tempeln und Gottes Zorn. Aber …«, er hob seine beiden Handflächen und warf einen durchdringenden Blick mitten ins Herz der Gemeinde, »… ist euch jemals der Gedanke gekommen, dass es ohne Zorn auch keine Liebe geben kann?« Ein Satz ergab den nächsten, sie funkelten wie kostbare Juwelen einer Halskette. Sein Gewand glitzerte, während er gestikulierte. Sein dichtes Haar war von blonden und braunen Strähnen durchzogen. Er sprach von Möglichkeiten und von Versuchung. Er sprach von Neuanfängen. Er beschrieb, wie er vor kurzem das Rauchen aufgegeben habe. Er sei auf die Packung gesprungen, sagte er, und habe sie in den Boden getreten, um sein Innerstes vom Nikotinfluch zu befreien. Vielleicht war es etwas Ähnliches gewesen wie die umgekippten Tische in der Geschichte aus der Bibel. Er sprach von Engeln und von Wiedergeburt. Shell beugte sich vor, die Hände fest zusammengepresst. Es war ein Wunder, das da geschah. Jesus trat aus der Kneipe und stieg sofort wieder hinauf ans Kreuz. Und Mum im Himmel tanzte Walzer mit den Geistern.
    Als Pater Rose geendet hatte, erhoben sich alle und sangen Großer Gott, wir loben dich . Zwischen den Tönen war das Gesumm tratschender Stimmen zu hören. Nora Canterville stieß Mrs Fallon, die Frau des Doktors, an und zog eine Grimasse. Mrs McGrath fächelte sich mit ihrem Hut frische Luft zu, als wäre der Teufel gerade vorbeigekommen. Dads Augenbrauen zogen sich zusammen, schwarz wie Mistkäfer.
    Und bewundert deine Werke …, sang Shell aus voller Kehle. Sie hatte nicht die Stimme ihrer Mutter, aber sie konnte den Ton halten. Sie ertappte Declan Ronan dabei, wie er sie imitierte, den Mund zuklappte und aufriss wie ein gequälter Fisch. So bleibst du in Ewigkeit. Sie schaute in seine Richtung, zog die Nase kraus und schaute wieder weg. Sogar Dinge wie das Hammelgericht, das sie fürs Abendessen kochen musste, während Trix und Jimmy die Küche belagern würden wie lästige Fliegen, oder ungemachte Schulaufgaben und düstere Zukunftsaussichten waren in ihren Gedanken plötzlich nicht mehr wichtig. Jesus Christus war in Gestalt von Pater Rose auf die Erde zurückgekehrt. Er wandelte unter ihnen, mitten in ihrer Kirchengemeinde, in dem kleinen Dorf Coolbar, in der Grafschaft Cork.

Zwei
    Den Rest des Tages schwebte sie auf einer Pater-Rose-Wolke. Sein Gesicht – oder war es das von Jesus? – schwamm in den Kartoffelschalen der Wasserschüssel. Es schimmerte im Spiegel, als das Licht nachließ, und schwebte durch die Dunkelheit, während sie in den Schlaf hinüberglitt.
    Am nächsten Tag waren sie bereits früh auf den Beinen, um auf dem Acker hinter dem Haus die Steine aufzulesen. Dad ließ sie das seit Wintereinbruch machen. Einen Grund dafür hatte er nie genannt. Falls er vorhatte das Feld umzupflügen, zeigte er es nicht. Inzwischen hatten Shell, Jimmy und Trix in der Nordostecke einen großen Steinhaufen angelegt, der immer größer wurde. Morgens waren sie meist wie drei schweigende Wachposten,
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